Ferdinand Pfohl, “Joseph Joachim und Richard Wagner,” Die Musik, Vol 20, No. 9 (June, 1928), pp. 645-652.
This article is reproduced here for historical interest. The strongly ad hominem opinions expressed are those of a partisan Wagnerian, and belong clearly to the period in which this piece was written.
Ferdinand Pfohl (1862-1949)
Joseph Joachim und Richard Wagner
Zur Geschichte einer Freundschaft
Die umfangreichen Sammlungen von Musikerbriefen, die seit den neunziger Jahren in der Öffentlichkeit erschienen und seitdem einen sehr wesentlichen Platz in der Literatur, im Buchhandel und nicht minder in der Gunst des gebildeten Publikums sich erobert haben, erfreuen sich mit Recht als wichtigste biographische Quellenwerke und ebenso als menschliche Dokumente und Bekenntnisse besonderer Wertschätzung. Erst seit die Briefe Mozarts und Beethovens, Webers und Mendelssohns, die Briefe von Robert Schumann, Johannes Brahms und Hans v. Bülow, dann aber vor allem die unvergleichlichen Briefe Wagners den gebildeten Kreisen zugänglich gemacht wurden und in den allgemeinen Bildungsbesitz übergingen, besitzen wir diese Meister ganz: als Künstler und als Menschen. Seit geraumer Zeit liegt nun auch als nicht unwichtige Ergänzung zu den brieflichen Mitteilungen aus dem Schumannschen Kreis das Briefwerk Joseph Joachims abgeschlossen vor. Drei starke Bände enthalten (auf ungefähr 1500 Seiten Text) die Briefe, die Joachim an vertraute Freunde, an Kunst- und Gesinnungsgenossen, an Familienangehörige und an Männer gerichtet hat, mit denen ihn Beruf, Leben, Neigung und Zufall zusammengeführt. Dort, wo Zusammenhang und Verständnis es notwendig machten, wurden in den Text auch die Antwortschreiben der brieflich sich mitteilenden Freunde aufgenommen: soweit sie durch Inhalt, Form und Ursprung Anspruch auf Bedeutung im Rahmen dieser Briefsammlung erheben können. Diese Briefe sind das einzige, was von Joseph Joachim, dem Virtuosen und dem Meister einer vergänglichen Kunst, dem musikalischen Mimen, übrigbleiben und einen Persönlichkeitsklang von ihm zu künftigen Geschlechtern weitertragen wird, wenn ihm auch schon seine Freundschaft mit Johannes Brahms einen Platz am Sockel dieses Großen und eine blassere Unsterblichkeit des Namens verbürgt. Die imposante Briefsammlung darf mit ihren Quaderbänden als ein literarisches Denkmal gelten, das die über das Grab hindauernde Verehrung der Freunde dem Menschen und dem mit der Kunst seiner Zeit in Liebe und Haß tief verwurzelten Musiker Joachim errichten will.
Joachims Aufstieg, der junge Ruhm und die Blütezeit seiner Kunst fällt in die äußerlich stürmische und von einem großartigen Entwicklungstrieb geschwellte Periode der deutschen Tonkunst, über der das Gestirn Richard Wagners leuchtet, jenes gewaltigen, schöpferischen Genies, dem das deutsche Volk sein nationales, aus uralt heiligen Kulturquellen getränktes Musikdrama in alle Ewigkeit zu danken hat. Wie alle Musiker, wie alle Künstler im weiteren Sinn des Wortes, und wie alle bedeutenden Menschen jener zukunftsschweren Epoche, in der Altes zum Neuen ward, in der die theoretischen Lehrsätze Wagners von der großen Mehrheit der Zeitgenossen als Ketzerei, seine von der Höhe einer hellsichtigen Erkenntnis, einer wundervoll reichen Natur gesehenen Opern als Kriegserklärung an den Geist der Musik verdächtigt und befehdet wurden, konnte sich auch Joachim der Wirkung, die von Wagners Kunst und Persönlichkeit ausging, nicht entziehen. Ein Künstler wie er, schwungvoll, ideal gerichtet, mußte von der Erscheinung Wagners sich gefesselt und endlich auch gedrängt fühlen, über sein inneres und äußeres Verhältnis zu ihr ins klare zu kommen. Es sind nun gerade die Briefe Joachims, die, ein ganzes, langes Leben widerspiegelnd, auf die Beziehungen Joachims zu Wagner, die künstlerischen und die persönlichen, helles Licht werfen. Ihren Verlauf kennzeichnet eine Linie der Abkehr: Was im Anfang freundschaftliches Nahesein, Aufblick voll Bewunderung und Ehrfurcht war, wendet sich im Lauf weniger Jahre zur Gegnerschaft, die leider nicht immer rein sachlich sich äußert, nicht überall gelassen sich formt, oder mit ritterlicher Waffe kämpft, sondern in Widerwillen und Abneigung umschlägt, ja, zu Gehässigkeit und Spott sich erniedrigt.
Joachim hatte Richard Wagner in Zürich besucht und war auf das freundlichste von dem aus der deutschen Heimat Verbannten aufgenommen worden. Die Briefe aus jener Zeit halten den tiefen Eindruck fest, den Joachim von der Persönlichkeit Wagners und nicht minder von der Kunst dieses Großen empfangen. »Ich sehne mich unbeschreiblich nach Wagnersehen Klängen« gesteht er in einem Briefe vom 2. März I853. Und in demselben Jahre spricht er mit freudiger Bewunderung von Richard Wagner: »… Auch Du hättest an dem Richard Wagner (ein rechtes Löwenherz!) Deine innige Freude gehabt. Wenn man so wie wir in Karlsruhe auf eine Menge kahler, fahler Sandbänke (Schindelmeißer, Guhr und Konsorten) gestoßen war, die in dem Ozean der Musik sich breitmachen, sehnt man sich nach einem ordentlichen harten, zackigen Felsen, der seine Kanten ordentlich gegen Himmel streckt, an dem man sich, wenn’s Wasser gar zu mächtig wird, doch wenigstens vor dem Verkommen im Wassertone retten kann. Wagner ist einer von den wenigen Menschen, die handeln, wie sie handeln, weil ihre innere Wahrheit (oder wenigstens, was sie dafür halten) sie nicht zu etwas anderem kommen lassen kann; das weißt Du auch, ohne ihn gesehen zu haben; aber nicht, daß jede äußere Bewegung, jeder Ton seiner Stimme Gesandter seiner Seele ist, ihre Ganzheit und Echtheit zu verkünden. Man muß ihn seinen Siegfried lesen hören, um, was seine Schriften in oft greller Weise sagen, mit einem Male, abgelöst von störenden Ansätzen zu Labyrinthen, vor uns als reinsten Künstlerenthusiasmus zu sehen, der keine Gewohnheit, nur Empfindung kennt. Auch ihm ist … alles Gerede, von gewissen Seiten her viel peinlicher als ein Ignorieren sein müsste … Er hat bloß aus Notwehr manches geschrieben, worauf man als auf Grundpfeilern weiter bauen zu müssen glaubt.« Wagner, der den um achtzehn Jahre Jüngeren in den Kreis der vertrauten Freunde aufnahm, die mit dem brüderlichen Du ausgezeichnet wurden, schreibt ihm (aus Zürich, 16. Januar 1854) zwei Briefe: einen »zum Vorzeigen«, in dem er den Hannoverschen Konzertmeister und Kammervirtuosen mit »Sie « anredet; und dieser im »Sie-Stil« hochachtungsvoll abgefaßte Brief soll Joachim Gelegenheit geben, auf den schwierigen Intendanten des Hoftheaters günstig im Sinn einer von Joachim gewünschten Lohengrin Aufführung einzuwirken. Und gleichzeitig mit dem diplomatisch zweckbewußten geht an Joachim ein anderes, herzlich freundschaftliches Schreiben ab, in dem Wagner wieder das »Du« gebraucht und mit den Worten schließt: »herzlich freue ich mich, Dich wiederzusehen, den ich liebe, ohne ihn noch geigen gehört zu haben … «
Die Harfe dieser Freundschaft gab in jener Zeit ihre vollsten und reinsten Klänge. Noch unverstimmt, aber doch schon mit deutlichem Ausweichen nach einer fremden Tonart, klingt sie auch noch in den nächsten Jahren. Im Januar 1855 schreibt Joachim wiederum aus Hannover an Woldemar Bargiel: »Sonntag wird hier zum erstenmal der Tannhäuser aufgeführt, ich bin sehr gespannt auf den Eindruck, den er auf mich nach zwei Jahren (so lang ist’s her, daß ich ihn in Weimar hörte) macht. Mein Geschmack hat seit der Zeit sich sehr geändert … « Und 1856 äußert er sich gegen Herman Grimm: »Neulich hörte ich einen großen Teil des Lohengrin auf der Hannoverschen Bühne, nicht den ganzen, weil ich vor dem Schluß ermüdete. Es ist doch ein großer Fortschritt im Vergleich zum Tannhäuser: auch in der Musik spricht es sich aus, daß der Enthusiasmus Wagners immer mehr einem Ideal zustrebt; die ganze Kraft eines auf einen Punkt hin konzentrierten Ehrgeizes liegt in ihm —«. Und wenn er 1857 (im Mai) bekennt: »Es ist mir drum zu tun, den Fliegenden Holländer hier zu hören … « so schwingt auch in diesen Worten noch ein sachliches und ein persönliches Interesse an dem Werk und seinem Urheber.
Aber schon die nächste Zukunft bringt den Umschwung, die dauernde Verstimmung und den Abfall. Freundschaft wandelt sich in Auflehnung, Zuneigung in kaltes, feindliches Gefühl; ein harter, abweisender und hochmütiger Zug tritt überall zutage, wo Joachim von Wagner spricht und schreibt. Kein Zweifel: Wagner hatte diesen Freund für immer verloren; freilich aus ganz anderen Gründen, als es jene waren, die ihm zwanzig Jahre später den herben und schmerzlicheren Verlust eines Friedrich Nietzsche zu tragen auferlegten. Verletzt von dem Abfall Joachims, pflegte Wagner dann mit einer Geste der Verachtung Joachim als den »jüdischen Geiger« abzutun.
Sucht man nach erklärenden Gründen für diesen Abfall, so dürfte vielleicht neben dem »veränderten Geschmack« einer neuen Bildungs- und Übergangsperiode noch eine andere, tief in die Charakterentwicklung Joachims und sein künstlerisches Glaubensbekenntnis eingreifende Tatsache als treibende Kraft anzuführen sein: einmal, seine ihn ganz ausfüllende Freundschaft mit dem jungen Johannes Brahms; und dann, der innige Anschluß an den alternden und tragisch erlöschenden Robert Schumann, den die beiden suchten und fanden. Joachim war Kammermusiker und Virtuose; er wurzelte in der absoluten Musik. Was hatte ihm die Oper, was Richard Wagner zu geben? Auch Brahms war Virtuose; und vor allem: dieser junge Meister kam von der absoluten Musik und befriedigte zugleich den Kammermusiker wie den Virtuosen; aber nicht minder auch den Menschen in Joachim. Und dann Schumann! Er, dem sie ja auch innerlich und musikalisch sich nahe verwandt fühlen, ist ihnen vom ersten Augenblick an der »hochverehrte Meister«, Orakel und höchste Autorität in allen Fragen der Kunst. Nun weiß man aber aus unanfechtbaren Zeugnissen, wie wenig freundlich und wohlwollend Schumann gegen Wagner gesinnt war, wie die Erfolge der ersten Opern Wagners Schumann zu schmerzhaftem Widerstand gegen dieses kühne, dramatische Genie aufreizten. Ohne Zweifel: Schumann, der selbst Opernpläne schmiedete, aber von Wagner sich weit überflügelt sah, verfiel der Todsünde des Neides, die seine reine Künstlerseele auf das häßlichste befleckte. Schumann war es ja auch, der als erster den üblen und hinfälligen Vorwurf des »Dilettantismus« gegen Wagner schleuderte, jenen Vorwurf, den er schriftlich in einem Brief über den Tannhäuser festlegte und den er vermutlich auch in mündlich mit den jungen Freunden über Wagner geführte Gespräche dürfte einfließen gelassen haben. So würde es leicht zu verstehen sein, daß der gleiche gegen Wagner gerichtete Vorwurf des Dilettantischen als feststehendes Leitmotiv bei so vielen Kundgebungen aus der Gruppe derer um Schumann immer von neuem wiederkehrt. Auf die jungen Musiker und ihre Sympathie für Wagner mußte gerade dieses Wort verheerend wirken. Und Joachim konnte sich von der Giftwirkung dieses Wortes nie wieder befreien, — im Gegensatz zu Johannes Brahms, der als schaffender Künstler von wirklicher Größe und Echtheit auch das Große und Echte in Wagner, vor allem die technische Meisterschaft des Musikers Wagner zu erkennen und zu würdigen befähigt und geneigt war. Brahms bleibt denn auch in diesem parteiischen Kreis, dessen Mitglieder später zu einer nach dem Grundsatz der Gegenseitigkeit errichteten Art Versicherungsgesellschaft, zu einer »G. m. b. H.« und zu einem Trutzbund gegen Wagner sich zusammenschlossen, sozusagen der einzige Wagnerianer. Joachim schlich endlich völlig in das gegnerische Lager hinüber. Schon 1860 war er mit Wagner innerlich fertig. Da berichtet und schmeichelt er Frau Schumann, der »Heiligen« des ganzen Kreises, mit der »unholden Faust-Ouvertüre« und versinkt von nun an in Gereiztheit und Ungerechtigkeit.
Joachims starre Gegnerschaft, der alles Ritterliche und vor allem die Achtung des Gegners abhanden gekommen, erhebt sich 1870 zu einer fast grotesken Höhe. Damals lehnte Joachim eine an ihn ergangene Einladung zur Mitwirkung an der Beethoven-Jahrhundertfeier in Wien ab, weil Wagner und Liszt — die Häupter der neudeutschen Schule — mit der Leitung der Festkonzerte betraut worden waren, durch die ihm persönlich das Bild von der »einfachen hehren Größe Beethovens gestört wird, die sich in schlichter, sittlicher Majestät nach und nach den Erdkreis untertan gemacht hat«. Also: das Persönliche, seine Abneigung und Feindschaft gegen Wagner und Liszt, stand Joachim höher als die heilige Sache, als der Dienst an Beethoven! Und bei dieser schroffen Haltung gegen Wagner und Wagnersche Musik, nach deren Klängen er sich einst gesehnt, verharrt J oachim Zeit seines Lebens. Durch Hetzer und fanatische Feinde Wagners aus dem Lager der Berliner »Hochschule für Musik« wurde die Glut dieser unsinnigen Feindschaft, wenn sie im Laufe der Zeit zu erlöschen oder gar versöhnlicheren Stimmungen zu weichen drohte, immer von neuem angeblasen. Als Bälgetreter an der Orgel des aufmerksam angefachten Hasses ragt hier namentlich Ernst Rudorff unrühmlich hervor. Joachim hat sich an der von ihm geleiteten Hochschule für Musik nur mit Freunden und Gesinnungsgenossen umgeben und er mußte die Wahrheit des Goetheschen Wortes am eigenen Leibe erfahren, wie wir am Ende von Kreaturen abhängen, die wir machten.
Bereits 1868 hatte Joachim eine boshafte Bemerkung, durchaus unwürdig eines lauteren Charakters, in einem Brief an Bernhard Scholz einfließen lassen. Dort sagt er von der ersten Meistersinger-Aufführung in München, an der Richard Wagner als Gast des Königs Ludwig zusammen mit diesem in der königlichen Loge teilnahm … »Wie könnte man sich über den Erfolg freuen, wenn ein Joseph II. und Mozart, und nicht ein paar Komödianten dabei im Spiele wären … « Der junge Bayernkönig und Richard Wagner: ein paar Komödianten! Welch perfide Wendung! Der Geist der Feindseligkeit und leider auch jener der Verunglimpfung hatte Joachim in seinen Bann geschlagen und stört grausam die schöne Harmonie dieser Künstlerseele und ihrer lichten Eigenschaften, sobald Gedanke und Gefühl sich Wagner und Wagnerseher Kunst zuwendet. Aus München schreibt Joachim 1870 … »Das Rheingold hat mich keine neue Seite Wagners kennen lehren; es ist eigentlich fast langweilig, mit seiner ewig schauerlichen Dekorationsmusik. Selbst Brahms mußte mit einstimmen, obwohl er gerne bewundernd von Wagner sich vernehmen läßt. Ich werde auf die Walküre vertröstet … « Und 1876 (September) platzt Joachim heraus … »Bis auf die Instrumentation ist viel Dilettantisches und übermäßig Maniriertes darin (in der Wagnerschen Musik), das muß dem ›Meister‹ unter die Nase gerieben werden … « Hier schlägt denn mit einemmal die Schumannsche Erbschaft durch: eben die törichte Anklage des Dilettantismus mit ihrer Herabwürdigung des Angeklagten. Und auf welch einen niedrigen menschlichen Standpunkt stellt sich ein Musiker von dem Rang Joachims, ein Künstler von seiner Bildung, seiner Kultur, seinem Geschmack, mit den letzten, höhnisch beleidigenden Worten: »Das muß dem ›Meister‹ unter die Nase gerieben werden«. Von Meyerbeers Dinorah — einer heute einfach unmöglichen Oper — schreibt er 1882: »Im ganzen sehe ich doch eine solche Oper lieber als den Tristan, der einen an Körper und Seele schlägt … « Nun ja, noch andere spielen lieber Skat, als daß sie den Tristan hören. Im Jahre 1889 war Joachim in Bayreuth, wo er Parsifal hörte. Er schreibt darüber einer Freundin: »Die Aufführung hat durch die sorgsame Vorbereitung und den großen Ernst sowie durch die Art der Orchester- und Bühneneinrichtungen einen ganz bedeutenden Eindruck auf mich gemacht. Einzelne Szenen wirkten geradezu erhebend, und wenn ich auch durch den größten Teil der Musik in dem, was ich für schön halte, gekränkt und beleidigt wurde, so habe ich doch vor der Tatkraft des Mannes, der sich das geschaffen hat, in rücksichtslosem Nachgehen der idealen Ziele, großen Respekt. Die Erscheinung läßt sich nicht ignorieren … « Hier regt sich der Künstler unter der lebendigen Kraftausströmung des Kunstwerks und seiner vollendeten Darstellung. »Die Erscheinung läßt sich nicht ignorieren,« sagt Joachim. Aber gleichwohl: sie mußte bekämpft und angefeindet werden, damit sich ihre Überlegenheit, ihre Lebenskraft, ihre sittliche Energie, ihre Größe aus sich selbst beweise.
Auch die Meistersinger hörte Joachim in Bayreuth. In verwandter Melodie klingt es zu Philipp Spitta hinüber: »…Trotz der vortrefflichen Orchesterleistung und der prächtigen Inszenierung des Ganzen habe ich doch auch diesmal mehr Ermüdung als Genuß gehabt, die breite Redseligkeit in Ernst und Scherz, die Verschwommenheit der Melodiebildung und Harmonienfolgen verderben mir das Totalbild, obwohl ich manches hinreißend Geniale bewundern muß und mich so gern dem energischen Geist hingäbe, der im Ganzen waltet. Unmöglich!« Durchaus ablehnend berichtet Joachim über ein Wagner-Konzert, das er (Januar 1888) in Amsterdam hörte, »…nie hat mich die Langeweile nervenquälender gepackt als beim Parsifal … Wann wird diese Krankheit, die überall grassiert, weichen? Man möchte verzweifeln, daß sie so viele gute Organismen zum Teil gepackt hat … « Aber hat mit dieser Meinungsäußerung Joachim so ganz unrecht? Ist der Parsifal im Konzertsaal nicht immer ein Unding, ein Verbrechen gegen den heiligen Geist und ein helles Unrecht an Natur und Seele dieses einer Mysterienbühne vorbehaltenen Kunstwerks gewesen?
Über Richard Wagner als Dirigenten läßt sich Joachim in einem Brief aus Berlin (Mai 1871) vernehmen. ) »… Der Wagner-Kult hier in Berlin ist lange nicht so groß, wie z. B. in Wien. Enthusiasmus war in keiner Weise beim großen Publikum für ihn zu spüren. Daß man aber einen so hervorragend großen Mann nicht ignoriert, finde ich in der Ordnung… Dem Schlendrian der hiesigen Dirigenten gegenüber tat das Wagnersche sorgfältige Einstudieren einer Beethovenschen Sinfonie ordentlich wohl, und das ist’s, was hauptsächlich bei seinem Hiersein Wirkung machte. Der Kerl empfindet doch ein Musikstück lebendig, und hat die Dirigentengabe, das dem Orchester mitzuteilen, an dessen Spitze er ein ganzer Mann ist. Wäre er so bescheiden, wie er in mancher Beziehung tüchtig ist, es wäre schon ganz recht. Leider ist es allerdings nicht der Fall … « Das klingt nun freilich im Ton nicht gerade respektvoll; als widerwillige und polternde Anerkennung der künstlerischen Natur Wagners gewinnt aber ein Lob aus dem Munde des »jüdischen Geigers« einen besonderen Wert, so gewunden und unlogisch auch die seltsame Epistel in ihrer Schlußkadenz Bescheidenheit und Tüchtigkeit zu Zwillingsschwestern machen will. Wer verlangt von einem Genie Bescheidenheit? Wer darf überhaupt einem genialen Menschen seine Eigenschaften vorschreiben? Und was heißt denn in diesem Zusammenhang überhaupt »Bescheidenheit«? Etwa gar Unterordnung unter »Geringere «? Wird nicht ein Genie schon durch die Vereinsamung, die jeder genialen Natur auferlegt ward, zur Bescheidenheit gezwungen? Muß es ja doch in Verzicht auf seinesgleichen aus seiner Höhe niedersteigen zu Schwächeren und Kleineren. Hatte Wagner Joachim einmal nicht sogar geduzt? Konnte Wagner bescheidener sein?
Der künstlerischen Arbeitsleistungen Bayreuths gedenkt Joachim mit bedingungsloser Anerkennung; zumal er es erleben muß, daß seine eigene Tochter als junge Opernsängerin 1893 nach Bayreuth reist, um mit Frau Cosima »einige Rollen zu studieren; denn wie alle Bühnensängerinnen ist sie unter dem Zauber der Wagnerschen Gestalten — dagegen läßt sich nun einmal in unserer Zeit nichts machen, und ich muß es ertragen, mich damit tröstend, daß wenigstens ein großer künstlerischer Ernst dort vorhanden ist … «
Es wäre töricht, Joachim als Verbrechen anrechnen zu wollen, was jedem andern erlaubt sein muß: nämlich, die Zwanglosigkeit, sich zu entscheiden, seines Kopfes und seines Herzens Herr zu bleiben, seinen Sympathien und Antipathien nach freier Wahl zu folgen. Nicht, daß J oachim den Schöpfungen Wagners kühl und ablehnend gegenübersteht, daß er nicht einmal ihre nationale Bedeutung und ihre historische Stellung in der Geschichte der deutschen Oper zu erkennen sich bemüht, sei ihm zum Vorwurf gemacht. Er entschied sich aus den Bedingungen seiner Natur und seiner Begabung gegen das Wagnersche Kunstwerk. Er konnte scheinbar nicht anders: um sich treu zu bleiben, mußte er Wagner untreu werden. Aber doch auch wieder nur scheinbar. Hermann Levi hat in einem wunderschönen Brief an das Geheimnis dieses hartnäckigen Widerstandes gegen die Kunst Wagners in der Brust Joachims gerührt, wenn er, selbst ein begeisterter Johannes Brahms-Anhänger, seinem lieben Joachim im Juli 1879 schreibt: » … Du fragst, ob ich immer noch Wagnerianer bin? « und er gibt ihm die Antwort, daß er den Tag segnet, an dem ihm (zuerst ahnungsweise bei den Meistersingern, dann bestimmt und entscheidend im Tristan) die Augen aufgegangen sind, und daß eine Rückkehr unmöglich … » … Für mich,« fährt Levi fort, »sind Tristan und Meistersinger und Nibelungen, wenn auch im Stile gründlich verschieden, doch gleichwertige Emanationen desselben großen Genius! So ist auch Parsifal wieder etwas ganz Neues noch nie Dageweseries; aber so wenig ein Fortschritt nach Tristan zu nennen, als die c-moll (Beethovens) einer ist gegenüber der Eroika, oder die Wahlverwandtschaften gegenüber dem Werther … Doch über Wagner läßt sich so wenig disputieren wie über Religion. Sehe jeder, wie er’s treibe. Aber freuen sollte ich mich, wenn auch Dir einmal eine ähnliche — Wandlung ›beschieden‹ würde; (ich sage absichtlich ›beschieden‹, denn es kommt ganz von selbst, man braucht nur stillzuhalten, sich nicht geflissentlich dagegen zu stemmen). Dann scheue nicht die leisen und inneren Kämpfe zur Zeit des Überganges: sie sind schnell vergessen über die Wonne des Besitzes … « Sich nicht geflissentlich dagegen stemmen; stillhalten: mit diesen Entschleierungen dringt Levi bis auf den eigentlichen Kern der Joachimschen Wagner-Feindschaft vor. Aber, die warme Stimme dieses Freundes fand nicht den Weg zum Herzen Joachims. Er wollte einfach nicht; aus Trotz, aus einseitigem Treueenthusiasmus gegen Brahms, aus mancherlei anderen Scheingründen. Der Druck dieser seelischen Verstopftheit quälte ihn, machte ihn unfroh, mürrisch, reizbar, nahm ihm Unbefangenheit und guten Willen. Und so mußte Joseph Joachim bleiben, was er war: Ein Musiker, der sich den prachtvollen Quell des Schönen und Hohen seligen Erlebens künstlich verschüttet hielt; der verneinte, wo er eigentlich bejahen mußte; der sich das Große verkleinerte, um andere Größe zu vergrößern; der sich Wagner zertrümmerte, um in der Brahmsschen Ganzheit zu schwelgen; der das Recht der Individualität für sich in Anspruch nahm, um die Individualität zu steinigen.
Und der, im Grunde genommen, eine phraseologische Feindschaft zwischen sich und Wagner aufrichtete, für die ihm die zureichenden Gründe fehlten. Der also mit einem Selbstbetrug behaftet durch das Leben ging.
Ferdinand Pfohl (1862-1949) was a popular and powerful music critic and sometime composer. Pfohl studied law in Prague and music in Leipzig. Early in his career, he wrote music criticism for the Leipzig Tageblatt, and the Königlich-Leipziger Zeitung. From 1892-1931 he was music critic for the Hamburger Nachrichten. From 1913-1934 he also co-directed the Vogt Conservatory in Hamburg. He wrote widely-circulated biographies of the conductor Arthur Nikisch and of Richard Wagner.