Die Musik: VII. Jahr 1907/1908, Heft 1, Erstes Oktoberheft, Berlin, pp. 43-45.
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Carl Flesch: “Was Bedeutet Uns Die Erinnerung An Joseph Joachim?”
Mit Joseph Joachim ist nicht nur einer der grössten Geiger aller Zeiten dahingegangen. Vor allem haben wir in ihm den Vertreter oft verkannter, doch immer wieder siegreich emporgekommener Kunstprizipien verloren, den Wiederbeleber der klassischen, altitalienischen Schultraditionen, dem es gegeben war, die Pflege des Violinspiels in neue, edlere Bahnen zu lenken. Sein bleibendes, kunsthistorisches Verdienst beruht im neuen Kurs, den er, kraft seiner grossen Persönlichkeit, dem öffentlichen Musikleben, wie es sich speziell in Konzerten äussert, um die Mitte des vorigen Jahrhunderts gegeben hat. Ein Blick nach rückwärts wird uns die Grösse des durchschrittenen Weges am besten erkennen lassen.
In Viotti, Rode, Kreutzer, Baillot und (ein wenig später) in Spohr hatte um das Jahr 1820 die Kunst des Geigenspiels insofern ihre Blütezeit erreicht, als diese Plejade, auf den gesunden, lebensvollen Überlieferungen der alten Italiener fussend, mit Hintansetzung der verächtlichen Künsteleien eines Lolli oder der halsbrecherischen Probleme Locatelli’s, die Geigentechnik dermassen vervollkommnet hatte, dass das vorhandene technische Rüstzeug für die gesteigerten Ansprüche der Solo- und Quartettliteratur vollkommen hinreichend war. Haydn hatte sie den Satzbau gelehrt, und die göttliche Melodik eines Mozart liess sie in ihren Kompositionen auch die verblüffendsten, das gute Publikum in Raserei versetzenden Kunststückchen zugunsten einer edlen Kantilene verschmähen. Formvollendete, in vornehmer Männlichkeit erstrahlende Geistesprodukte, denen es auch nicht an einer persönlichen Note fehlt, eröffnen sie vielverheissend einen Ausblick in jene Zukunft, die den Erwählten bringen sollte, der kraft seines Genies, dem ewigen Gesetze des Werdens und Vergehens zufolge, seine Kunst in neue Bahnen lenkt und neue Formen zur Versinnlichung seines Schönheitsideals findet. Und sieh, da erscheint ein Mann, doch es ist — Paganini.
Die Physiognomie dieses Neuerers, die Fülle von sonderbaren Erscheinungnen, die sein Auftauchen nach sich zog, — sein Einfluss auf die geigende Mit- und Nachwelt, auf den Geschmack des Publikums, auf die Violin-
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komposition und die Kompositionstechnik im allgemeinen — mit besonderer Berücksichtigung der Orchestration — dies alles wartet noch des Musikhistorikers, der es der Mühe wert findet, eine Entdeckungsfahrt in dies scheinbar so minderwertige, in Wirklichkeit jedoch unendlich interessante Gebiet zu unternehmen. Die alten Ammenmärchen von einem in Liebesraserei begangenen Morde, jahrelangem Schmachten im Gefängnisse und eifrigem autodidaktischen Studium daselbst (als wenn das Musikmachen in dergleichen Anstalten gestattet wäre!) können höchstens den sensationslüsternen Teil unsere inneren Menschen befriedigen. Paganini’s Einfluss auf den Pianisten Liszt zu kennen, oder die Erkenntnis, ob nicht Berlioz für die dazumal so verblüffenden Flageoletkombinationen im Scherzo der “Romeo und Julie”-Symphonie sich Paganini’s Lektionen zunutze gemacht hat, wäre für uns von weit grösserem Interesse. Ein Vergleich zwischen einem Violinkonzert von Spohr und den Geigenpassagen im Walkürenritt oder im Feuerzauber würde unumstösslich feststellen, dass Wagner trotz seiner Achtung vor Spohr auf keinen Fall geigentechnischer Studien halber bei ihm in der Lehre gewesen ist. Ja vielleicht müsste man zu der paradox klingenden Schlussfolgerung gelangen, dass Paganini als der Vater der modernen Orchestertechnik zu betrachten sei!
Unheilvollster Art war hingegen sein Einfluss auf die spezifische Geigenkomposition, deren schlechte Beschaffenheit ihrerseits wieder notwendigerweise den Geschmack der grossen Menge auf das niedrigste Niveau bringen musste. Die Variationenform, durch Beethoven in seinen späteren Werken als Mittel zum Ausdruck der höchsten, letzten Dinge geheiligt, musste ihm zum Köder dienen, mittels dessen er die sensationslüsterne Masse an sich lockte, sollte ihm die Folie sein zu seinen im besten Falle das Unterhaltungsbedürfnis befriedigenden Gaukeleien. Die durch ihn bewirkte ungeheure Erweiterung der Technik musste notgedrungen, als die Verwirklichung des bisher für unmöglich Gehaltenen, den angebenden Kunstjüngern den Kopf verdrehen und für viele Jahrzehnte die Musiker auf Irrwege leiten. Die edle Romantik eines H. W. Ernst, von dessen “blutig schönem Ton” uns Heine erzählt, ging in sinnlosem Nachäffen zugrunde. Prume’s geistlose “Mélancolie”, die uns heute nur mehr durch ihre unsagbar trockenen Trommelvariationen melancholisch stimmen kann, bildete einen eisernen Bestandteil aller Konzertprogramme. Sivori, Alard, de Bériot und wie sie alle heissen, überschwemmten die Konzertsäle mit einer wirklichen Sündflut von Stücken seichtester Art, in denen der schlechte Geschmack wahre Orgien feierte. Kein Wunder, dass es ihnen mit dieser grenzenlosen Herabwürdigung der Kunst endlich gelang, die Geige in den Augen des wahren Musikers dermassen zu diskreditieren, dass es noch lange dauern wird, bis das ominöse Bild des typischen “Violinvirtuosen”
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in den Augen der Mitwelt dem des ernststrebenden Geigers, der sich seiner hohen Mission bewusst ist, gewichen ist.
Joseph Joachims unvergängliches Verdienst ist es, diesen verrotteten Zuständen durch den Ernst seines künstlerischen Strebens ein Ende bereitet zu haben. Köstliche, längst verschollene Besitztümer — Bachs Partiten, Mozarts Violinkonzerte, Beethovens Einziges — hat die Welt durch ihn wiedergefunden. Spohrs Stil fand in ihm seinen berufensten Interpreten, und der Adel seines Vortrags hauchte den alten Italienern neues Leben ein. Mendelssohns und Schumanns Geigenkompositionen hat er aus der Taufe gehoben. Unzählbar sind die Werke, die seinem Vorbild ihr Entstehen verdanken. Den Geigenstücken eines Brahms, Bruch, Goldmark ist seine Existenz eine unerlässliche Vorbedingung gewesen. Minderwertige Tonsetzer fanden in ihm nie einen Interpreten, denn seine edle Natur konnte sich nur wieder für Edles begeistern. Die jüngeren Geiger-generationen hat er die in der dunkeln Paganini-Periode abhanden gekommene künstlerische Ehrlichkeit wieder gelehrt, und der ganze Stand hat durch ihn seine alte Würde wiedergefunden. Die Technik ist nun auf den ihr gebührenden Platz, als Handlangerin im Dienste der musikalischen Idee, zurückgekehrt. Seine Gemeinde besteht nicht mehr ausschliesslich aus Jüngern, die seines Unterrichts teilhaftig wurden; alle ehrlichen Geiger, aus welchen Schulen immer hervorgegangen, die nur das, was sie auch wirklich fühlen und lieben, einer Interpretation für würdig halten, scharen sich um seine Fahne. Nun er dahingegangen, ist uns sein Name mehr als die Erinnerung an den grossen Geiger und Menschen: er bedeutet für uns ein Programm fürs Leben — das er künstlerischen Würde und Ehrlichkeit.
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