Der Salon für Literatur, Kunst und Gesellschaft, (ed. Julius Rodenberg), vol. 1 (Leipzig: A. H. Payne, 1873), 43-55.
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Joseph und Amalie Joachim
Die lezten Jahre haben nicht allein der deutschen Nation glänzende Siege, politische Einigung, die höchsten Güter nationalen Bewußtseins verliehen, sie haben auch der Kunst den Vortheil gebracht, daß auf ihrem Gebiete — wie auf dem politischen — die Partei sich bilden kann, welche, aller Exclusivität fremd, das Gute auf jeder Seite anerkennt, widerstrebende Elemente zu versöhnen und für allgemeine große Zwecke zu vereinigen strebt. Die Kunstgeschichte bietet ja fast dieselben Erscheinungen wie die politische: Wechselwirkung zwischen Nothwendigkeit und höherer Erkenntniß des Nothwendigen; Kampf verschiedenartiger Richtungen; scharfe Gegensätze selbst innerhalb der edelsten Bestrebungen nach gleichem Ziele; endlich Verständigung und gegenseitige Anerkennung bei vollkommener Wahrung der eigenen Ueberzeugung und Unabhängigkeit. Allerdings dürfen die Erscheinungen in der Kunst eben so wenig vom doctrinär ästhetischen Standpunkte beurtheilt werden, wie die im Staatenleben vom vorgefaßten politischen; der vielgeschmähte Constitutionalismus, der die verschiedenartigen Kräfte in dem einen Puncte: Zusammenwirken für das allgemeine Beste, zu vereinen sucht, ist auch in der Kunst der einzige richtige Leitfaden für unbefangenes und unabhängiges Urtheil. Doch — und das wollen wir hier gleich vollkommen genau feststellen — sein Wirken beginnt erst, wenn die Gegensätze im Kampfe sich gemessen und ihre Kräfte entfaltet haben; denn “der Streit ist der Vater der Dinge”.[1]
Von diesem Standpunkte werden wir das Wesen und Wirken des größten ausübenden Meisters unserer Zeit prüfen und beurtheilen, Joseph Joachim’s, dessen künstlerische Entwicklung äußerlich als eine ganz gleichmäßige erscheint, in der That aber die bedeutsamsten Phasen des Musiklebens der letzten Jahre durchwandelt hat.
Joseph Joachim ist am 18. Juni 1831 in Kittsee, einem kleinen Orte Oberungarns, geboren. Sein Vater, ein Kaufmann, zog bald nach der Geburt dieses jüngsten Sohnes nach Pest. Der Knabe zeigte frühzeitig entschiedene Neigung für Musik, ward einem Lehrer anvertraut und schon in seinem siebenten Jahre in einem Concerte vorgeführt. Er spielte Variationen von Pechatschek[2] und ein Doppelconcert mit seinem Lehrer. Noch im Jahre 1844 erzählten Pester Musiker und Musikfreunde dem Verfasser von dem enormen Eindrucke, den der Knabe hervorbrachte, von dem ruhigen Ernst, mit dem er seine Aufgabe löste. Das allgemeine Urtheil bestimmte den Vater, ihn nach Wien zu führen, und der Leitung Hellmesbergers (Vater) anzuvertrauen.
Die österreichische Hauptstadt galt damals noch als die, welche allein neben Paris Ruhmesdiplome für Virtuosen ausstellen durfte. Durch ihre Entscheidung war Liszt das Primat zuerkannt worden, um welches zwei Jahre früher Thalberg in Paris und London mit ihm kämpfen durfte, und gerade zur Zeit, als Joachim ankam, fällte sie in dem Wettstreite zweier berühmter Geiger das entscheidende Urtheil. Beriot, das Haupt (“chef d’école”) der neuen französisch-belgischen Violinschule[3] hatte eben durch sein außerordentlich feines, elegantes und sicheres Spiel große Erfolge errungen, und sein drittes Concert angezeigt, als Ernst erschien. Vor dem Glanze seiner Leistungen, vor seiner Elegie, den Othello-Variationen und dem damals ganz neuen “Carneval von Venedig” erblich das bengalische Theaterfeuer des Franzosen; Wien proclamirte Ernst als den ersten Geiger seiner Zeit. Der treffliche Künstler war auch damals noch nicht durch Kränklichkeit und die Ermüdungen eines fahrenden Virtuosenlebens geschwächt, in seinen Vorträgen zeigte sich noch keine Spur jener Unsicherheit und Ungleichheit späterer Jahre, die zwar manchmal vor dem Aufflammen einer erlöschenden genialen Kraft zurückwich, aber immer mehr Herr über ihn ward und ihn zuletzt vom Concertsaale ganz fern hielt. Seine Technik war noch mächtig und außerordentlich glänzend, sein Ton klang gewaltig, schön, edel; seinen Vortrag erfüllte eine tiefe elegische Wehmuth die erst später in winselndes Klagen ausartete und feuriger Schwung; und seine Compositionen, wenn auch mehr von effectanstrebender als künstlerischer Richtung,trugen doch edles und individuelles Gepräge und boten nicht den Mischmasch von trockener Generalbaß-Gelehrsamkeit, süßlichem Geklingel und etüdenhaftem Passagenwerke, wie die später vielbeklatschten Concerte und Phantasien von Vieurtemps. Ernst’s Elegie und manche seiner Duos für Clavier und Violine, die er im Verein mit Steffen Heller componirte, können noch heute als Muster ihrer Gattung gelten.
Er stand im vollsten Glanze seines Ruhmes, als ihm der kleine Joachim vorgeführt wurde; und sofort erkannte er den jungen Stamm der Eiche, die einst über Alle hinausragen sollte. Noch in seinen letzten Lebensjahren rühmte er sich öfters mit Behagen seiner Prophezeiung vom Jahre 1841, daß in Joachim der größte Geiger heranwachse; und in seinen niederdrückenden körperlichen und moralischen Leiden war es ihm ein Freudentag , ein Tag erhebenden Trostes, wenn er vernahm, daß der Künstler, dessen Größe er vorausgekündigt, eine von seinen Compositionen öffentlich vorgetragen hatte. Der arme Ernst! Er ist vor wenigen Jahren gestorben, aber sein Name, einst so hochgeehrt, so berühmt, war schon längst verschollen. Wohl selten ist ein bedeutender Künstler und edler Mensch in größerm Weh zu Grunde gegangen!
Seinem Rathe zufolge ward Joachim — dessen weitere Erziehung Verwandte in Wien übernommen hatten — der Leitung Böhm’s anvertraut, der nach Maiseder als Virtuos, Quartettspieler und Lehrer das bedeutendste Ansehen genoß.[4] Unter diesem studirte der junge Künstler bis zum Jahre 1844, in welchem er an dem ersten entscheidenden Wendepunkte seiner künstlerischen Entwickelung anlangte, Das Leipziger Conservatorium war eben gegründet worden durch die Anregung Mendelssohn’s , unter dessen Leitung die Gewandhausconcerte sich zur höchsten Blüthe und Bedeutung erhoben. Eine in Leipzig verheirathete Anverwandte Joachim’s schrieb oft und dringend, er solle nach ihrer neuen Heimat kommen, dort auftreten und seine Studien unter Mendelssohn und David vollenden; die Familie, deren Obhut er anvertraut war, entschloß sich, ihn auf die “weite Reise” mit der Post nach Dresden und von da auf der Eisenbahn nach Leipzig zu senden.
Wenn sie dabei wol mehr von dem Gedanken, daß der Knabe “im Auslande” bekannt werde, sich leiten ließ, als von dem seiner künstlerischen Ausbildung in Leipzig, so darf sie nicht der leiseste Tadel treffen. Man konnte von Kaufleuten nicht höhere Kunstanschauungen verlangen, als im elegantesten Wiener Publicum vorherrschten. Die glänzenden Erfolge und reichlichen Concerteinnahmen reisender Wunderkinder waren eine unleugbare, allgemein anerkannte Thatsache, aber die Bedeutung des neu gegründeten Conservatoriums in Leipzig, und die von dort ausgehende Kunstrichtung ward nur in Norddeutschland — und auch da nicht ohne Anfechtung — erfaßt, im Süden fast gar nicht beachtet. Mendelssohn galt noch der Mehrzahl der Wiener Kritiker und Fachleute als Verstandesmusiker; Schumann war dem Publicum zumeist als Gatte der Clara Wieck, deren Vater die Ehe so lange nicht zugeben gewollt, romanhaft interessant; aber seine Compositionen, für die Wien jezt mehr schwärmt, als der Norden, und sein Wirken als Kunstkritiker kannten nur sehr Wenige; die Masse verhielt sich ganz gleichgiltig gegen ihn.[5]
Von einem Geiger “David” hatte noch Niemand reden hören, der “alte Moscheles” gehörte einer längst entschwundenen Periode des Clavierspieles an. Wenn wir also behaupten, daß nicht die Bedeutung des Leipziger Conservatoriums der für die Verwandten Joachim’s entscheidende Grund seiner Uebersiedelung war, so glauben wir um so weniger zu irren, als selbst sein Lehrer Böhm , der vortreffliche classisch gebildete Musiker unbegreiflich fand, daß ein so hochbegabter Knabe, anstatt in Paris höchste virtuose Ausbildung und Ruhm zu suchen, in “Leipzig” Musik studiren wollte. Und am so höher ist das Geschick zu preisen, welches durch einen äußerlichen Anlaß des jungen Künstlers Schritte dahin lenkte, wo er jene harmonische Entwickelung fand, deren Mangel selbst große Künstler schmerzlich empfanden. Wie vieler Kämpfe bedurfte es zu der vollkommenen Reinstimmung, die jetzt sein Wesen kennzeichnet, wenn er die unermeßlich wichtige Uebergangszeit vom dreizehnten bis zum zwanzigsten Jahre anstatt in Leipzig unter Mendelssohn’s Einflusse, in Paris verbrachte, wohin damals noch alle Wege wiesen!
Als er Mendelssohn vorgeführt wurde, von dessen Entscheidung die Aufnahme in das Conservatorium abhing, erkannte der große Meister sofort die ganz künstlerisch angelegte Natur des Knaben, und faßte einen schnellen, seinen Charakter bezeichnenden Entschluß: unter seiner unmittelbaren Leitung, nicht als Schüler des Conservatoriums sollte er studiren — von David im Geigenspiel so viel als nöthig unterrichtet werden. Er beaufsichtigte seine Arbeiten, musicirte sehr oft mit ihm, sein Rath und seine Anleitung entwickelten die Auffassung und den Vortrag des jungen Künstlers und gaben ihm den sichern Compaß für die Richtung nach dem Höchsten.
Fünf Jahre blieb Joachim in Leipzig, zuerst als Lernender, dann als erster Geiger, endlich als zweiter Concertmeister der Gewandhausconcerte, von den Besten geliebt und geleitet. In dieser Zeit unternahm er auch seine erste Reise nach London, auf Anregung seines Meisters und Freundes. Dieser war in der Themsestadt fast noch höher geehrt als in Deutschland, beim musikalischen Publicum populär durch seine herrlichen Compositionen und sein wundervolles Clavierspiel, d e m nicht musikalischen sehr interessant als des berühmten Philosophen Enkel, der nun auch einen berühmten Namen erworben hatte, selbst bei der damals noch ganz intoleranten aristokratischen Gesellschaft wol angesehen, weil er nicht als “professional” auftrat, für seine Leistungen in Privatzirkeln kein Honorar annahm, und also zu den Gästen gehörte und nicht hinter dem Seile stand, welches die bezahlten Künstler selbst die Malibran von der Zuhörerschaft trennte.[6] Durch seine Verwendung und Empfehlung erlangte Joachim das höchste Zugeständniß des strengst abgeschlossenen musikalischen Vereins: die Philharmonic society, in deren Concerten, den Statuten zufolge, nur ausgebildete Künstler, keine Wunderkinder (prodigies) auftreten durften, öffnete ihm, den fünfzehnjährigen Jüngling, ihre Pforten und ließ ihn das Concert von Beethoven vortragen.
Der Leser mag sich eine Vorstellung bilden von der Scene, wie das classische, exclusive Publicum einer Nation, die noch heute an alten Formen mit pünktlicher Genauigkeit festhält, in deren Parlamente zwar die Mitglieder mit dem Hute auf dem Kopf und in Jagdstiefeln, der Präsident (speaker) jedoch nur im alterthümlichen Costüme und mit einer ungeheuren Perrücke erscheinen dürfen, wie dieses Publicum zuerst den jungen “Burschen” betrachtete, der ihm das Concert von Beethoven vorspielen sollte, wie es nach und nach den Widerstand gegen die ungewohnte Form aufgiebt, sich dem Eindruck der Leistung überläßt, sich immer mehr erwärmt, bis es zuleßt in einen donnernden Applaus ausbricht, wie er die Räume der Hannover concert rooms nur selten durchbraust hatte! An jenem Tage gründete Joachim seinen Ruhm in England und die Ausnahmestellung, auf die wir später zurückkommen werden.
Mit dem Jahre 1850 beginnt eine zweite bedeutsame Phase in der Entwickelung unseres Künstlers. Seit dem Tode Mendelssohn’s mochte er wol in Leipzig sich vereinsamt fühlen; er hatte nicht blos den persönlichen Gönner und Freund verloren, auch den hellblickenden großen Meister, dessen ganzes Wesen ihm höchste Anregung im Leben wie in der Kunst verlieh. Er war gewohnt neben einem Größern zu stehen und zu wirken, immer Neues, Bedeutsames kennen zu lernen und weiter zu befördern. Das fehlte ihm. Eine Reise nach Paris, die er mit dem trefflichen Cellisten Coßmann unternahm, brachte ihm in Trio-Soiréen und Concerten größte Erfolge, beste gesellschaftliche Aufnahme, aber keine innere künstlerische Befriedigung, keinen Ersatz für den bisherigen Wirkungskreis.
Gerade zu jener Zeit entstand die große Bewegung in der Musikwelt, die, von Wagner ausgehend,von Liszt mit allen Kräften unterstützt, einen mächtigen, nicht zu unterschätzenden Umschwung hervorbrachte. Um für ihre Bedeutung und Berechtigung den richtigen Maßstab zu gewinnen, muß man vor Allem sich die Periode vergegenwärtigen, in welcher sie entstand, die Factoren, welche dabei mitthätig auftreten, die allgemeinen politischen und socialen Zustände.
Den überschwänglichen, nebelhaften, zerfahrenen politischen Experimenten war ein scharf gegensätzlicher Umschwung gefolgt, der um so tiefer demüthigend und niederdrückend wirken mußte, als die Nation aus der Revolution nicht einmal das Bewußtsein äußerer Machtentfaltung mitnehmen konnte, wie einst die englische, deren Cromwell ihre Seemacht gründete, und den protestantischen Glauben überall beschüßte, oder die französische, die gerade in der schrecklichsten Zeit der neunziger Jahre gegen Europa siegreichen Krieg geführt hatte. Eine dumpfe Apathie lastete auf dem geistigen Leben Deutschlands. Die politische Literatur beschäftigte sich mit mehr oder minder gehässig geschriebenen Parteischriften, und mit dem wenig erquicklichen Broschüren- und Zeitungsstreite zwischen Oesterreich, das durch Rußlands erbetene Dazwischenkunft vom Zerfalle gerettet worden war, und Preußen, welches diesem Oesterreich in allen nationalen Fragen weiteste Zugeständnisse eingeräumt hatte. Kunst und Wissenschaft lagen danieder, das Musikleben kann nicht bezeichnender geschildert werden, als durch die Thatsache, daß Meyerbeer’s Prophet und Schulhoff’s Concerte den Glanzpunkt bildeten.
So standen die Verhältnisse, als ein schaffender Künstler, der als solcher noch wenig genannt worden war, aber durch seine Betheiligung am Dresdener Aufstande die damals noch Werth verleihende Bedeutung des politischen Flüchtlings genoß, mit einer Schrift hervortrat, die an staunenswerther Kühnheit, an revolutionärem Tone, aber auch an künstlerischem. Feuer und Schwunge alles bisher in dieser Gattung Geleistete übertraf; der Mann wagte in jener Zeit den künstlerischen Verfall den elenden politischen Verhältnissen zuzuschreiben, wagte es, an das Volk zu appelliren für Rettung der Kunst. Das ungeheure Aufsehen, welches diese Schrift in den verschiedenartigsten Kreisen erregte, war noch nicht geschwunden, als er ein zweites Werk — dieses Mal ein wissenschaftliches, weitausgesponnenes — veröffentlichte, worin er seine Grundthesen einer gänzlichen Umgestaltung der dramatischen Musik aufstellte. Der apodictische Ton der Behauptungen und Urtheile, die rücksichtslose Kühnheit der Angriffe, aber auch die unleugbare Wahrheit vieler Aussprüche und Betrachtungen über dramatische Musik, Operntexte, Stil und Färbung, gaben diesem neuen Werke eine noch größere Bedeutung als das erste erlangen gekonnt. Den großartigen Erfolg des Schriftstellers Wagner steigerte der Componist Wagner durch gleichzeitige Herausgabe von “Lohengrin”, worin er zeigte, wie er seine Theorien auch durch die künstlerische That verwirklichen könne. Kein Hofintendant oder Theaterdirector wagte damals, das Werk des verbannten Kapellmeisters und revolutionären Schriftstellers vorzuführen. Nur Liszt in Weimar ließ sich durch kein Bedenken zurückhalten, entschied durch seine Stellung als Hofkapellmeister und durch seinen Einfluß bei Hofe die Aufführung, die einen großartigen Erfolg erzielte, und schrieb in die damals weitest verbreitete Leipziger Illustrirte Zeitung einen von Begeisterung erfüllten Artikel mit Notenbeispielen, der die allgemeine Aufmerksamkeit auf die Oper lenkte. Der Anstoß zur Polemik war nun gegeben, und sie brach allseitig mit einer Heftigkeit hervor, die, wenn auch unleugbar durch die Wichtigkeit der Frage und die rücksichtslose Herausforderung Wagners, doch auch zum großen Theil durch die damalige politische Stagnation zu erklären ist, in welcher die Erregung bedürftigen Geister jede Gelegenheit, sich Luft zu machen, an irgend einem Streite sich zu betheiligen, begierig erfaßten.
Die politischen Leidenschaften hatten ein Feld gefunden, auf dem sie sich frei bewegen durften; sie konnten bei dieser künstlerischen Frage auch die staatlichen mit in’s Spiel ziehen; in den Musikzeitungen durfte so Vieles gesagt werden, was eine politische auszusprechen nimmermehr wagte! Die Anhänger Wagner’s pflanzten das Banner des Fortschritts, der Menschheit, der Aufklärung — auch der neuesten Schopenhauer’schen Philosophie auf, die damals gerade Boden zu fassen begann; die Gegner der “Zukunftsmusik” stritten nicht allein für die Gesetze der Kunst, sondern auch für “Erhaltung des Staates”, den Wagner zertrümmern wollte. Jeder freiheitlich Gesinnte mußte — zumal in den Kleinstaaten — ein Wagnerianer sein, sonst galt er für einen verkappten Reactionair, oder wenigstens für einen “Gothaer”. Andererseits durfte man, vorzüglich in Preußen, Sachsen und Oesterreich, die Einleitung zum Lohengrin nicht preisen, wenn man denk maßgebenden Kreisen nicht als Demokrat oder wenigstens als “angeröthelt” erscheinen wollte.
Die specifisch musikalische Partei Wagner’s war damals noch klein. An der Spitze der Bewegung stand Liszt; ja man kann sagen er hat sie gebildet, organisirt und geleitet. Seinen Namen umgab ein noch ganz ungetrübter Glanz. Er war noch nicht als Componist von “Symphonischen Dichtungen” und “Oratorien” aufgetreten zwischen denen die gleichzeitig entstandenen Transcriptionen von “Rigoletto”, “Trovatore”, Faustwalzer, “Afrikanerin” u . dgl. sich seltsam genug ausnehmen und seine unübertroffene Meisterschaft als ausübender Künstler war selbst von Denen anerkannt, die, dem eigentlichen Virtuosenthum abhold, der rein classischen Richtung anhingen, aber seiner Genialität die Fähigkeit, classische Werke vollendet wiederzugeben, zugestehen mußten. Er beherrschte das künstlerische Leben in Weimar, das sich zu jener Zeit ganz und gar in der Musik concentrirte; und von dort aus übte er mächtigen Einfluß nach den verschiedensten Seiten. In der Aristokratie, die noch den vergötterten Pianisten und bezaubernden Weltmann im Auge hatte, und in einem großen Theil der wahrhaft begeisterten Jugend zählte er verläßliche Anhänger, denen sein Urtheil als Gesetz galt. Sein genialer Scharfblick errieth bald, welche große künstlerische und für seine neue Richtung entscheidende Kraft in Joachim gewonnen werden konnte, und auf seine Anregung stellte der Weimarsche Hof dem jungen Künstler in Leipzig glänzende Anträge: lebenslängliche Anstellung als Concertmeister, ein verhältnißmäßig hohes Gehalt, und alle gesellschaftlichen Vortheile. Joachim durfte nicht zaudern, einen solchen Wirkungskreis, und neben Liszt, anzunehmen! Wir haben in diesen Blättern[7] bereits einmal ausführlich von der Persönlichkeit Liszt’s gesprochen, von seinen außerordentlichen geistigen Gaben, von dem Zauber, den er auf seine Umgebung auszuüben vermochte; und es läßt sich wol denken, in welchem Grade er den zwanzigjährigen Joachim — dem gegenüber er alle seine Kräfte als Künstler, als Musiker von reichstem Wissen, als geistreicher Weltmann entfaltete, und den er als einen Ebenbürtigen behandelte einnehmen mußte. Das Verhältniß zwischen ihnen war Jahre lang ein freundschaftliches, bis die Verschiedenheit der Ansichten, vielleicht auch die gesteigerten Ansprüche Liszt’s, der durchaus als großer Componist anerkannt sein will, allmälig eine Entfremdung, zuleßt die gänzliche Trennung herbeiführten.
Joachim konnte während seines Aufenthaltes in Weimar und auch noch einige Zeit nachher von der Wagner’schen Partei als einer der Ihren betrachtet werden, denn wenn er auch seinem ganzen Wesen nach jedem Parteigetriebe fern stehen mußte, so äußerte er doch seine Sympathien für Wagner’s Opern unverholen und bei jeder Gelegenheit. Merkwürdigerweise zeigen seine Compositionen aus jener Periode nicht die leiseste Spur von Wagnerscher Melodienbildung oder Harmonisation. Sein erstes Concert, das er 1853, als er bereits nach Hannover übergesiedelt war, auf dem Karlsruher Musikfest unter Liszt’s Leitung vortrug, so wie seine Hamlet-Ouvertüre, Werke von vorwiegend düsterer Färbung tragen den unverkennbaren Stempel von Schumann’s und Berlioz’ Einfluß. Und diese Eigenthümlichkeit bietet einen bedeutsamen Aufschluß für das innere Wesen Joachim’s und eine bessere Erklärung für die spätere gänzliche Trennung von der Partei, als alle die unerquicklichen polemischen Andeutungen. Es ist viel darüber gestritten worden, in wie weit er diese Trennung öffentlich in den Zeitungen[8] kundgeben sollte; wir glauben, daß er nicht gut anders handeln konnte, sein Name wurde zu oft neben den Lenkern der Partei genannt, die Pflicht der Aufrichtigkeit gebot ihm, die Veränderung in seinen Ueberzeugungen eben so offen darzulegen, als er diese Ueberzeugungen früher ausgesprochen hatte.
In Weimar blieb Joachim bis zum Jahre 1852, in welchem er als Concertmeister nach Hannover berufen ward.[9] Dort verweilte er bis zum Jahre 1865, nach allen Seiten hin rastlos künstlerisch thätig, fördernd, anregend. Dort brachte er durch unablässiges, allseitiges Studium seine Kunst zu jener Meisterschaft, die ihm den unbestrittenen ersten Platz unter allen ausübenden Musikern sichert. Dort bildete er seine künstlerischen Grundsätze um, bis sie zur unwandelbaren Festigkeit gediehen. Dort gründete er seine Häuslichkeit in der Verbindung mit Amalie Schneeweiß, die jetzt als Concertsängerin ihm würdig zur Seite steht. Seine Stellung in Hannover war die glänzendste. Der König, von aufrichtiger Liebe zur Kunst und zu den Künstlern beseelt, gab ihm wiederholte Beweise der Hochachtung, das Publicum ließ keine Gelegenheit vorübergehen, wo es sich ihm dankbar erweisen konnte für den Aufschwung, den die Orchesterconcerte unter seiner Anregung, Leitung und Mitwirkung nahmen.
Nichtsdestoweniger fand er sich zu wiederholten Malen bewogen, seine Entlassung zu verlangen. Er konnte manche Verhältnisse in der Oberleitung nicht mit seinen Ueberzeugungen vereinbaren; zwar vermochte der König des Künstlers Bedenken durch erneute persönliche Gunstbezeugungen zu beschwichtigen, nicht zu beseitigen; auf die Dauer konnte sich der fest auftretende Joachim auf dem glatten Boden der Hofgemächer nicht behaglich fühlen, und sein Entschluß die Stellung aufzugeben, ward zuletzt ein unwiderruflicher. Doch blieb er noch in der Stadt, wo er und seine Frau viele liebe Freunde zählten, bis die veränderten politischen Verhältnisse, die warme Aufnahme, die er bei jedesmaligem Erscheinen in Berlin fand, endlich die Einladung des ehemaligen Cultusministers von Mühler, die Leitung einer neugegründeten Hochschule für Musik zu übernehmen, ihn bewogen, seinen dauernden Wohnsitz in der neuen Kaiserstadt aufzuschlagen. Seine Wirksamkeit in dieser Stellung, die damit verbundenen Zwischenfälle gehören der jüngsten Vergangenheit an, liegen also noch so nahe, daß der Blick nicht alle Einzelheiten sicher zusammenzufassen vermag, und daher ein so zu sagen perspectivisches Urtheil nicht gefällt werden kann. Wir schließen also unsere Erzählung der Thatsachen ab und beschäftigen uns nunmehr mit der Betrachtung und Prüfung des Individuums.
Wenn man als bezeichnendes Merkmal der classischen Schule annimmt, daß sie Formschönheit, Einheitlichkeit des Stiles, Maß in Benuzung der Mittel, Beschränkung der Gefühlsbewegungen, also die Herrschaft des Geistes über die Einbildungskraft, als Gesetz aufstellt, im Gegensatze zur romantischen, welche den Formzwang verwirft, Originalität, freie Bewegung der Gefühle, Prägnanz des Ausdruckes, unbeschränkten Gebrauch der Mittel verlangt; so muß Joachim als der edelste Vertreter des classischen Stiles bezeichnet werden. Ja, er ist jezt eigentlich der einzige große ausübende Instrumentalist der classischen Schule. Denn fest steht die Thatsache, daß Genialität, Eigenthümlichkeit, höchste Ausbildung der Ausdrucksmittel vorzugsweise bei den Virtuosen und Sängern der romantischen Schule zu finden sind. Tausig, der leider so früh der Kunst Entrissene, Rubinstein, Bülow, die den unbestrittenen ersten Rang unter den Clavierspielern einnehmen, Laub, Singer, Wilhelmi, die Geiger, die neben Joachim großen Ruf erlangen und erhalten konnten, gehören der romantischen Richtung an,[10] und die größten deutschen Sänger, Niemann und Betz, sind entschiedene Anhänger Wagner’s; dagegen läßt sich von den moisten “classischen” Clavierspielern und Geigern behaupten, daß sie ihrer Phantasie nicht zu viel Spielraum gewähren, weil die Finger sie im Stich ließen, d. h. weil ihre Technik dem Fluge nicht folgte, daß also ihr Maßhalten nicht freier Selbstbestimmung, sondern der Nothwendigkeit entspringt, daß sie nicht über die Stränge hauen”, weil der Arm zu kurz ist, der Leidenschaft keine Macht über sich gewähren, weil sie einfach keine Leidenschaft spüren. Was Rosenkranz in seiner “Aesthetik des Häßlichen” vortrefflich von manchen hervorbringenden Künstlern sagt, paßt eben so gut auf die nur wiedergebenden: “die Abwesenheit aller positiven Incorrectheit, die Anwendung bekannter edler Formen im Einzelnen, die Enthaltung jedes Ueberschwungs, die Zahmheit des gewählten Ausdrucks, die negative Sauberkeit, mit welcher das Detail ausgeglättet ist, betrügt nicht über die Gehaltlosigkeit des Innern.” Wir unsererseits erkennen die in England sehr hochgeschätzte, auch jezt in deutschen Kreisen in die Mode kommende musikalische Achtbarkeit und “Solidität”, die äußerliche abgeschliffene Form, eben so wenig als das Wesen des classischen Vortrags an, wie wir der gegensätzlichen Richtung, die uns Ungewöhnliches, Bizarres als Eigenthümliches aufdrängen will, irgend eine künstlerische Berechtigung zugestehen.
Aber eben weil unsere Anschauungen so scharf trennende sind, müssen wir Joachim höchste Bewunderung zollen. Er gebietet über alle Mittel der genialsten Romantiker: ausgebildetste Technik und Kühnheit, umfassendste Kunst der Tonfärbung, Schärfe des Ausdrucks, Leidenschaft und unermüdende Kraft; und doch ist er ein echter Classiker, voll Poesie innerhalb der schönsten Formgrenzen, der Meister, der, “mit Zeit und Fleiß an die Kunst gebunden, die Natur in seinem Herzen glühen läßt”,[11] der die höchste Freiheit in der höchsten künstlerischen Gesetzmäßigkeit entfaltet: nur wer ihn oft gehört hat, wer ihn bewundern konnte, wie er in seinem zweiten und dritten Concerte, oder in den Paganini’schen Capricen die größten erdenkbaren Schwierigkeiten ruhig und sicher überwindet, der vermag die wahrhaft hohe Selbstverleugnung zu würdigen, mit welcher Joachim, vom brillanten Solospiel sich abwendend, den Schwerpunkt seiner Leistungen in das Quartettspiel legt. In diesem ist er auch unvergleichlich, nicht blos durch seine hohe Auffassung und durch den vollendeten Vortrag, sondern durch die Art, wie er die Mitwirkenden leitet und führt, wie er sie mit seinem Geiste durchdringt, und zu einer von anderen Quartetten nie erreichten Gesammtleistung vereinigt. Zur vollständigen Durchführung einer solchen Aufgabe ist allerdings eine Beschränkung der Gefühlsregungen, des Ausdruckes tiefster Empfindung nothwendig, und Mancher mag vielleicht lieber die Vollendung der Form, als diesen Ausdruck vermissen; wir aber müssen uns nach reiflichster Erwägung dahin aussprechen, daß ein wahrhaft classisches Quartett nicht anders gedacht werden kann, als es Joachim jetzt in Berlin gebildet hat; er ist eben der größte Musiker unter den Geigern.
Und wie seine Meisterschaft ist auch seine gesellschaftliche Stellung in ihrer Art einzig zu nennen. Kein ausübender Künstler wandelte je seinen Weg mit solch’ vollkommener Nichtbeachtung aller äußerlichen Nebenmittel. Tausig stand ihm in dieser Hinsicht am nächsten, hat nie der Presse oder anderen Einflüssen das mindeste Zugeständniß geboten; aber er war eine stürmische Natur, konnte ohne innere und äußere Kämpfe nicht bestehen, mußte immer Partei nehmen, und seinen Geist nach den verschiedensten Richtungen beschäftigen, und zählte daher nur heftige Gegner oder entschiedene Freunde; Rubinstein, der sich ebenfalls von allen unkünstlerischen Manoeuvern vollkommen fernhält, gebietet über eine bezaubernde Persönlichkeit, die ganz geschaffen ist, das Publicum sofort einzunehmen, und alle Ungleichheiten des Vortrags, wie sie manchmal neben Leistungen höchster Meisterschaft vorkommen, übersehen zu lassen. Was Liszt betrifft, so war seine Kunst des Inscenesetzens fast ebensogroß wie die seines Clavierspiels und noch heute läßt sich der Abbé Liszt vom ehemaligen Concertgeber Liszt belehren, “wie’s gemacht wird.” Aber Joachim’s Natur ist, jeder polemischen Richtung abgewendet, eine glücklich harmonische, die das schöne innere Gleichgewicht anstrebend, auf die künstlerische Lebensaufgabe concentrirt, von der Außenwelt nur so viel aufnimmt, als sie zur geistigen Nahrung bedarf; seine äußere Erscheinung, die kräftige Gestalt, das ernste, bärtige Gesicht,[12] die ruhige Haltung, sind nicht von der Art, die das elegante Publicum sofort günstig stimmt; und fern von seinem Wesen liegen die blendende Genialität in der Conversation und all’ die gesellschaftlichen Talente, die der Abbé aus seiner frühern Laufbahn in die jetzige mit herübergenommen hat. Und doch vermochte Joachim einen Ruhm und eine Stellung in der Gesellschaft zu erlangen, wie jezt kein Anderer, und wie in England ein ausübender Künstler sie noch nie errungen hatte. Denn in diesem eigenthümlichen Lande, das noch heute Stoff zu den mannigfaltigsten psychologischen Studien bietet: in welchem die stärksten Gegensätze des öffentlichen Lebens sich organisch entwickelt haben: in welchem das Gesetz Freiheit giebt, aber die Gesellschaft in selbst auferlegter Sklaverei der Gewohnheiten und Gebräuche und in scharf gesonderten Kategorien lebt: in welchem die reichsten Universitäten und die großartigsten Bibliotheken und Sammlungen der Welt der wissenschaftlichen Laufbahn das größte Feld bieten, dagegen fast keine Anstalt existirt, in denen die Söhne des nicht reichen Mittelstandes, des Bürgers und Gewerbsmannes ohne viele Kosten die Bildung erwerben können, die an jedem kleinen Gymnasium oder an der Realschule einer kleinen deutschen Stadt erworben werden muß:[13] in welchem die Armee gar kein privilegirter, nach eigenen Gesetzenregierter Stand war,[14] die Officierstellen dagegen bis vor wenigen Monaten noch verkäuflich, daher nur den reichen Leuten zugänglich gewesen sind: in welchem auch die Wissenschaft mit den seltensten Ausnahmen ein specielles Erwerbsgeschäft war, und es nie einem Professor einfallen konnte, als vortragender Rath des Ministerpräsidenten berufen zu werden, oder gar die Ministerstelle zu erklimmen; in diesem eigenthümlichen, in gar manchen Dingen bewunderungswürdigen Lande ist die Stellung eines ausübendenKünstlers eine sehr einträgliche, aber nach deutschen Begriffen eine gesellschaftlich sehr untergeordnete. Er ist ein gut bezahlter “professional”, aber sonst wenig beachtet, und er muß eine Lectionen gebende oder Solo-spielende oder singende Maschine werden, wenn er nicht seinen Zweck in England ganz verfehlen will. Ist er zu Ruf und Protection (patronage) hoher Damen gelangt, dann wird er als gut bezahlter Lehrer berufen, ist er Geiger oder Sänger, so wirkt er in den Privat-soiréen oder Matinéen der großen Herren und gegen hohes Honorar (terms) auch in öffentlichen Concerten gegen feste Bedingungen; da die meisten dieser Aufführungen in die “Season, d. h. vom Anfang Juni bis gegen Ende Juli fallen (wo die Italienische Oper ihre Preise auf die Hälfte herabsetzt), so muß er so zu sagen Alles mitnehmen; und es ist nichts Seltenes, daß ein en vogue stehender Romanzensänger, der außerhalb Londons nicht bekannt ist, jeden Tag der Woche (Sonntag ausgenommen) zwei bis drei Mal dieselben Stücke vorträgt, des Mittags in einem Morgenprivatconcerte, um sechs Uhr in einem öffentlichen Concerte und Abends zehn Uhr wieder im Salon eines großen Herrn, und in dieser Weise während einer “Season” fünf_bis sechstausend Thaler erwirbt.[15]Und die bedeutendsten in London ansässigen Musiker geben nach fünfundzwanzigjähriger Thätigkeit noch immer um neun ein halb Uhr Morgens Unterricht in den Pensionen von Brighton (wohin sie mit der Eisenbahn fahren müssen) nachdem sie Abends zuvor in irgend einer Gesellschaft (entertainment) bis Mitternacht den mehr aristokratischen als musikalischen Gesang einiger Herzoginnen und Marchionesses am Piano begleitet, zuvor aber in irgend einem Concerte einen Psalm dirigirt haben.[16]
Wenn einer von ihnen ein eigenes Concert veranstaltet, so stehen auf dem Zettel alle die Namen der hohen Damen, die ihn mit ihrer Protection beehren und Billete abkaufen: Under the immediate patronage of Her Grace the Duchess, oder Her Ladyship the Countess, oder the Right Honourable etc. Ein solches Programm enthält nie weniger als fünfzehn Nummern, nach einer Arie von Händel oder Bach kommt eine Romanze von Stigelli oder Gumbert; und wenn der Zettel nur viele berühmte Leute nennt, dann ist der Erfolg gesichert. In der italienischen Oper (Her Majesty’s) kommen alljährlich acht bis zehn “große” Sänger und Sängerinnen aus allen Weltgegenden und von den verschiedensten Theatern zusammen, von denen die meisten Italienisch nur radebrechen, und sehr oft den Inhalt des Textes gar nicht verstehen; sie haben nie zusammengewirkt; mit zwei bis drei Proben führen sie heute den Trovatore vor, morgen den Don Juan, übermorgen vielleicht den Fidelio von Beethoven oder Stiffelio von Verdi. So ist das elegante Musikleben in London beschaffen.
Wir wollen nun nicht etwa gesagt haben, daß die Hauptstadt von Großbritannien nicht ein wahrhaft musikalisch gebildetes Publicum besitzt, die Stadt von drei Millionen Einwohnern, in der Händel gelebt, Haydn und Mendelssohn die höchste Anerkennung gefunden haben, in welcher ja eben Joachim eine solche hochgeachtete Stellung einnimmt. Wir wollen hier auch genau hervorheben, daß der Engländer im Allgemeinen vor jedem bedeutenden Componisten Respect hat, nicht blos aus Liebe zur Tonkunst sondern weil seiner Nation jeder bedeutende Producent als ein tüchtiger Mann erscheint; aber das Eine wollen wir feststellen, daß der Musiker in England vor Allem Geschäftsmensch ist und sein muß. Viele dort lebende Herren Musiker werden das nicht eingestehen, aber es ließen sich Facta aus den besten Kreisen und von den besten Musikern anführen, welche obige Behauptung unwiderleglich beweisen.
Und mitten in solchen Verhältnissen hat Joachim sich eine Stellung gegründet, daß er in der Gesellschaft nicht als der berühmte Geiger, sondern als der gleichberechtigte Gentleman angesehen wird. Er hat aber allerdings nie in Privatkreisen für Honorar gespielt, sondern nur als befreundeter Künstler bei Freunden. Seine bezahlten Leistungen gehörten der Oeffentlichkeit, dem Publicum; dem Einzelnen, noch so Hochgestellten gegenüber blieb er unabhängig. In den letzteren Jahren ist er sogar nur während der ersten Monate des Jahres in den Monday popular concerts, meistens als Führer des Quartetts aufgetreten, also gar nicht mehr in der “Season”, wo die elegante Welt erst nach London kommt. Auch sein ganzes ruhiges bestimmtes Wesen ist dem Engländer sympathisch. Und wenn der Engländer einen Fremden in sein Haus aufnimmt, d. h. nicht blos an gewissen Tagen zu Tische oder des Abends ladet, sondern ihn auffordert, ihn öfters zu besuchen, so lernt dieser ein Leben kennen, so eigenthümlich, so schön gleichmäßig geregelt, und doch nicht einförmig, so unbefangen und behaglich frei innerhalb der nur durch Sitte und angenehmen Ton gesetzten Schranken, wie er es ähnlich fast nirgends wiederfindet. Und Joachim gehört zu den bevorzugtesten Fremden in England! So steht dieser Künstler da, wol der Glücklichsten Einer! Man kann von ihm sagen: sein ganzes Leben war bisher nach den schönsten Gesetzen der Tonkunst geführt: jede Dissonanz war durch den Gang der Accorde vorbereitet, nie erschien sie jäh und störend, und wenn sie gesetzmäßig eintrat, so löste sie sich auch in Wohlklang auf. Und wenn er gerade durch diese Lebensführung sich gewöhnt hat, auch im Aeußerlichen nur das Harmonische zu suchen, nur das gesellschaftlich Angenehme gelten zu lassen, Manches in Kunst und Leben Berechtigte von sich fern zu halten , wenn es dem Harmonischen nicht ganz entspricht, so kann ihn kein anderer Vorwurf treffen, als der einst auch Goethe traf.
Wir haben nun noch seiner Gattin einige Worte zu widmen. Amalie Schneeweiß ist in Graz in der Steiermark (wenn wir nicht sehr irren 1841) geboren. In ihrer Vaterstadt erhielt sie den ersten Unterricht und betrat dann die Bühne, zuerst das Wiener Hofoperntheater, für kleinere Rollen. Hier haben wir einer Episode aus dem Kunstleben zu gedenken, die so charakteristisch, so merkwürdig, ja so einzig in ihrer Art ist, daß sie nicht verschwiegen werden darf. Eine Sängerin verweigerte eines Tages die Rolle der Brautführerin im Freischütz weiter zu übernehmen, weil sie zu einer weniger untergeordneten berechtigt war; an ihre Stelle mußte eine kleine Choristin treten; diese gefiel durch ihr munteres Wesen und angenehmes Aeußere und ward auch von nun an von der Regie mehr beachtet, während jene um ihrer berechtigten Forderung willen vielleicht neue Zurücksetzung erfahren mußte; die Choristin nennt sich heute Frau Lucca, die andere heißt Amalie Joachim.[17]
Wir können den weitern Aufenthalt der Künstlerin in Wien, so wie den in Leipzig übergehen; die Entfaltung ihrer Kunst, das Erkennen ihres eigentlichen Berufs begann in Hannover. Hier hatte sie einen ihrer würdigen Wirkungskreis gefunden; hier lernte Joachim sie kennen, fühlte sich von ihrem Gesang, von ihrem Wesen zu ihr gezogen; hier feierte sie ihre Vermälung, nachdem sie noch zuvor im Fidelio und Orpheus — ihr Bräutigam leitete das Orchester — von der Bühne Abschied genommen hatte. Sie widmete sich fortan dem Oratorium und dem Liede, für welche ihre ganze künstlerische Wesenheit geschaffen ist, und an der Seite des Gatten feierte sie überall Triumphe. Sie ist in ihrem Fache jezt unstreitbar die Erste. Wir verkennen nicht, daß ihre so schöne und weiche Stimme der Geläufigkeit entbehrt, welche überhaupt der deutschen Gesangskunst ferner liegt, als der italienischen und besonders der französischen, die ja vor Allem auf Kehlenfertigkeit gerichtet ist; wir wollen auch die Bemerkung der Hörer, die hier und da in dem Vortrage mancher Lieder mehr Feuer und Leidenschaft wünschten, nicht ganz ignoriren. Aber wir wollen auch feststellen, daß in edler künstlerischer Auffassung, im einheitlichen wahrhaft classischen Vortrage — von dem auch die kleinste, nur effectvolle, aber dem Geiste des Werkes nicht entsprechende Schattirung (Nüance) fern gehalten wird — keine jetzige Sängerin der Frau Joachim gleich steht; und selbst die einst so hoch gefeierte Lind — die überhaupt gar vieles Bühnenhafte in den Concertsaal brachte, und sich nicht scheute, auf einem Düsseldorfer Musikfeste ein ganz schaales Bellini’sches Rouladenparadestückchen zu singen — hätte Bach niemals in solcher Weise vortragen gekonnt. So sind denn Joseph und Amalie Joachim die würdigsten ausübenden Vertreter deutscher Tonkunst. — Kann es wol ein schöneres Loos geben?
A. H. Ehrlich
[1] Heraklit.
[2] Pechatschek war damals der beliebteste Compositionenfabrikant für die Violine, wie seiner Zeit Herz für das Clavier.
[3] Die ältere Schule (Viotti, Baillot, Rode, Kreutzer) hatte eine viel edlere, wenn auch weniger brillante Richtung eingehalten.
[4] Er war auch Ernst’s Lehrer gewesen.
[5] Wir erinnern uns ganz genau, wie in den vierziger Jahren Schumann mit seiner Frau in Wien war und diese das wundervolle Concert vor halbleerem Hause und mit geringem Erfolg spielte; wie seine schweigsame, in sich gekehrte Natur ihm wenig Freunde gewann; wie er, nachdem seine Frau zwei wenig besuchte Concerte gegeben hatte, und durch die zugesagte Mitwirkung der Jenny Lind die Aussicht auf ein sehr volles drittes gewann, mit einem Male der Presse und den Künstlern keine Karten sandte, und sich heftige Vorwürfe zuzog, und wie selbst Fischhof, der für ihn aufopfernd gewirkt und gestrebt hatte, der langjährige Mitarbeiter seiner Zeitung, sich mit ihm nicht zurecht fand. Schumann gehörte — gleich Beethoven — zu jenen Naturen, die bei allem Edelsinn und innerer Lauterkeit die schroffsten äußerlichen Regungen nicht bemeistern können, vielleicht gerade weil der Widerspruch zwischen den inneren Anschauungen und den äußeren Formregeln ein zu großer ist. Schumann’s Natur war, wie so viele Stellen seiner Compositionen, synkopistisch — die schönsten Harmonien durch Vorhalte und raschen Wechsel beckend und berwirrend.
[6] So schrieb Mendelssohn an Devrient.
[7] In dem Artikel über Karl Tausig.
[8] Im Jahre 1856 oder 57 veröffentlichten Brahms, Joachim, Scholz u. A. eine entschiedene Erklärung gegen die Ansichten und die Zeitungspolemik der neudeutschen Partei.
[9] Der Verfasser war so glücklich, bei dieser Berufung thätig mitzuwirken. Er hatte eben seine Stellung als Hofpianist angetreten, als er von dem Hofintendanten um seine Meinung befragt wurde, welcher Künstler wol an die Stelle des kürzlich verstorbenen Concertmeisters und zweiten Kapellmeisters Hellmesberger berufen werden könnte. Er nannte Joachim, den er nicht persönlich kannte, aber deffen hohe künstlerische Bedeutung ihm überall gepriesen, und besonders von Liszt (bei einem Besuche in Weimar) ausführlich dargelegt worden war. Auf die Bemerkung, daß Joachim in Weimar lebenslänglich angestellt sei, und daher eine officielle directe Anfrage sich nicht gut bewerkstelligen ließe, schrieb der Verfasser an Liszt, und dieser machte sich anheischig, Joachim von den bindenden Verhältniffen zu befreien, wenn ihm in Hannover ein bedeutenderer “Wirkungskreis” gesichert würde. Das geschah, und nach einem Besuche in Hannover erklärte Joachim sich zur Annahme der neuen Stellung bereit. Da der Verfaffer die Absicht hegt, die auf diese Angelegenheit bezügliche Correspondenz mit manchem andern für das Kunstleben Interessanten gelegentlich zu veröffentlichen, muß er, um späteren Mißdeutungen vorzubeugen,schon jetzt diesen Zwischenfall erwähnen, wenn auch dessen Erwähnung mit der Studie über Joachim in keinem unmittelbaren Zusammenhänge steht.
[10] Wenn auch die beiden Letztgenannten nicht direct der neuromantischen Schule beigezählt werden können, so zeigen sie doch in der Wahl ihrer Programme mehr Neigung für die mit der Romantik zusammenhängende Richtung.
[11] Siehe Goethe’s Sonnett “Natur und Kunst”.
[12] In früherer Zeit, als er noch keinen Bart trug, zeigte der untere Theil des Gesichts, Mund und Kinn, Aehnlichkeit mit dem von Sebastian Bach.
[13] Von der Organisation deutscher Gymnasien hat man in England keinen Begriff; nur Privatanstalten bieten dem Mittelstande einige Aushülfe für seine Kinder.
[14] In den königlichen Theatern darf die Uniform nicht getragen werden. Jedermann erscheint im schwarzen Anzuge.
[15] Der Verfasser hat selbst mehrere derartigeBeispiele gesehen: ein italienischer Tenorist, dessen Stimme für die Oper nicht ausreichte, verlegte sich auf die sentimentale Romanze; er war ein sehr angenehmer Salonsänger, dabei ein sehr hübscherMann von feinen Manieren, ward bei Hofe sehr gut aufgenommen und konnte zuletzt alle ihm zukommenden Einladungen nicht annehmen; er sang durchschnittlich drei Mal des Tages in Concerten. Auch Fräulein Jetti Treffs, jetzigevFrau Strauß, machte in London Furore mit einem Liedchen von Kücken, und hat es in einer “Season” wenigstens vierzig Mal gesungen.
[16] Der Verfasser spricht auch hier aus eigener Anschauung.[17] Der Gewährsmann für diese Erzählung ist Joachim. Der Verfasser traf diesen vor etwa zwei Jahren in Berlin vor einem Schusterladen, in welchem Frau Joachim Bestellungen machte. Als sie herausgekommen war fragte Joachim : (wörtlich): “Haben Sie nicht den Artikel über die Lucca in der “Gartenlaube” geschrieben?”
“”Gewiß, er war ja mit meinem Namen unterzeichnet.””
“Erinnern Sie sich noch der Stelle, wo Sie erzählten, eine Choristin, welche das “Wir winden Dir den Jungfernkränz” singen sollte, war krank geworden und die Lucca sei an ihre Stelle getreten?”
“”Wie sollte ich nicht!””
“Nun, hier steht die Choristin !”
Frau Joachim erklärte darauf den Sachverhalt, wie er oben erzählt ist.