Zum Gedächtnis Joseph Joachims. Worte, gesprochen bei der Beisetzung am 19. August 1907, von Pfarrer W. Nithack-Stahn. [Kaiser-Wilhelm-Gedächtnis-Kirche, Berlin]

Eckart: Ein deutsches Literaturblatt, Jahrgang 1907/8, Nr. 1, Oktober: 66-68.

Translation by Robert W. Eshbach below


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Jakobus 1, Vers 17: “Alle gute Gabe und alle vollkommene Gabe kommt von oben herab, von dem Vater des Lichts.”


Ein Lied ist verhallt, die Melodie eines großen Menschenlebens. Und wie wenn der Meister seine Geige sinken läßt und alles in tiefem Schweigen verharrt, den nachschwingenden Tönen im Inneren lauschend — so ist uns zu Mute an dem Sarge. Euch vor allem, die ihr aus dem Vollklang dieses Lebens den schönsten Laut heraushören durftet: den der Vaterliebe. Aber weit hinaus über den Kreis derer, die ihm menschlich verbunden waren, weit über Länder und Meere, wo nur irgend ein Ohr und ein Herz ist, in das je ein Ton von ihm gedrungen, zittert ein Etwas von diesem Leben nach.

Uns aber ziemt es, nun das große Schweigen gekommen ist, in das alles Lebendige einmal versinkt, wie vor allen bedeutenden Wirklichkeiten, so auch vor dieser nachzusinnen, woher sie kam, und was sie uns bedeutet.

Und wenn wir dieses Menschendasein überblicken, wir können kaum anders, als in den Ruf ausbrechen: Welch ein Leben! Glück nennt man das, was einem Gutes scheinbar in den Schoß fällt — und was wäre ihm nicht zugefallen? Von sorglichen Eltern gepflegt, von verständnisvollen Freunden gefördert, in bester Schule gebildet, entzückt er als Kind schon Tausende, und der damaligen Welt nennt ihn “eine herrliche Erscheinung”. Und doch, kein überreitzter Wunderknabe — im gesunden Körper reift eine gesunde Seele heran. Als Jüngling steht er ebenbürtig neben den Meistern seiner Kunst, von ihnen neidlos bewundert und geliebt. Die Besten seiner Zeit werden ihm Freunde. Ein kunstliebender Fürst wirbt um seine Dienste. Eine Meisterin des Gesanges tritt ihm als Lebensgefährtin zur Seite.  Und während das neue Deutsche Reich zu erstehen beginnt, wird ihm der Ruf zuteil, in dessen Hauptstadt diese hohe Schule der Musik zu gründen. Fast vierzig Jahre währt seine Künstlerlaufbahn. In einem Alter, wo wir anderen noch in der Kinderstube spielen, dient er schon, ein kleiner Priester des Schönen. In Jahren, wo die meisten längst ihren Feierabend halten, waltet er seines Amtes, ohne an Muße zu denken. Was die Welt einem Künstler an Lorbeeren zu vergeben hat, hat er geerntet. Und als die Todeskrankheit über ihn kommt, darf er, getragen von Kindesdankbarkeit, zufrieden sprechen: “Es ist so schön, wenn man geliebt wird”, und endlich ohne Kampf entschlummern. Wahrlich, ein Erdenwallen, das an die Sonnenbahn des größten Dichters erinnert. Sollen wir von ihm sagen: er war ein Günstling des Schicksals. Oder sollen wir sagen: er hat sich seines Lebens Glück geschmiedet? Beides würde schwerlich in seinem Sinne sein. Das eine wäre ihm zu wenig fromm gedacht, das andere zu unbescheiden. “Die Kunst ist mir ein Heiligtum, ich könnte mein Leben mit Freude für sie hinopfern”, schreibt er als Achtzehnjähriger. Wer so spricht, der mißt sich selbst einen adeligeren Ursprung bei, als den, ein Produkt blinder Mächte oder eigenen Verdienstes zu sein. Sondern, was er ist und kann, gilt ihm als eine Gabe. Gute Gaben waren ihm in die Wiege gelegt, und zur Vollkommenheit hat er sie entwickelt, soweit das von einem Menschen gesagt werden kann. “Alle gute Gabe aber und alle vollkommene Gabe, — er wußte es, — kommt von oben herab “; sagen wir auch: “von unten herauf”, was liegt daran? Das Beste, was wir in uns tragen, was uns mit Schauern der Ehrfurcht und Liebe erfüllt, es stammte aus den höchsten Höhen, zu denen unser Gedanke schwindelnd emporsteigt, — es stammt aus den tiefsten Tiefen, in die wir staunend hinabblicken, dorther, wo die Quellen des Lebens rinnen; es stammt, — auch unser Toter hat sich dazu bekannt, — von dem “Vater des Lichts”, von dem alles Gute und Schöne geheimnisvoll ausstrahlt.

Und weil er seinen Genius ansah als etwas, das ihm gehörte und doch auch wieder nicht gehörte, darum gab er weiter, was ihm gegeben war, in selbstverständlicher Pflicht. Daher der eigentümliche Lebensernst, der schon an dem Knaben wohltuend auffiel und ihn von dem genialischen Gebahren schied, zu dem so mancher Hochbegabte sich berechtigt glaubt. Wahrlich, man kann zweifeln, was das Größere war von dem, was er uns gegeben hat: seine Kunst oder seine Persönlichkeit. Beides doch unzertrennlich. Was ein Künstler sei, er hat es uns wieder einmal gepredigt. Künstler sein, heißt nicht nur, ein Könner sein, — wer war ein solcher, wenn nicht er? — aber Künstler sein bedeutet mehr: ein ganzer Mensch sein, der eine eigene Welt im Busen trägt, eine Welt, die in heiligen Akkorden tönt, und der sie den Mitmenschen erschließt. Und wiederum daraus folgte die selbstlose Sachlichkeit dieses Künstlers, der in seinem Werke unterging. War’s nicht der Zauber, den er immer wieder übte, daß man den Tondichter selbst zu hören glaubte, den er wiedergab? Nenne man das ein seltenes Stilgefühl. Es war doch mehr: eine sittliche Kraft, die da wirkte; ja, eine religiöse Auffassung der Kunst, über der auch das Wort des Meisters von Nazareth schwebt: “Ich bin nicht gekommen, daß ich mir dienen lasse, sondern daß ich diene.” — Wer so den ganzen Menschen an die große Sache setzt, der kann nicht anders, als sein eigenes Menschentum nach allen Seiten hin vertiefen. So wundern wir uns nicht, daß dieser Musiker auch die Hochschule der Wissenschaft besucht; daß er, ein Lehrer von Weltruf, noch lernend im Hörsaale sitzt. Er war überzeugt: Man kann nicht genug sein, um aus sich etwas hervorzubringen. Und was war die treibende Kraft in ihm, ob er als Knabe mit Anspannung aller Sinne die Saiten des Lebens unter dem atemlosen Schweigen Tausender Beethovens Seele herausbeschwor; ob er als Leiter dieses Hauses nüchterne Tagesgeschäfte gewissenhaft erledigte oder ein Geschlecht von Schülern nach dem anderen bildete; ob er im engsten Kreis der Seinen der Hausmusik pflegte; ob er sein Können in den Dienst des Wohltuns stellte?

“Wenn ich mit Menschen- und mit Engelzungen redete, und hätte der Liebe nicht, so wäre ich ein tönendes Erz und eine klingende Schelle!” Ja, nennt es, wie ihr wollt, dieses wunderbare Etwas, ohne das auch die höchste Kunstfertigkeit, wie alles Menschentum, hohler Klang bleibt, nennt es: Liebe zur Sache, Liebe zur Idee — es ist doch im tiefsten Grunde Gottesliebe

Darum: ein deutscher Künstler war’s. Es ist wohl keine Überhebung, sondern auch nur dankbare Anerkennung dessen, was unserem Volke von oben herab gegeben wurde, wenn wir sagen: diese völlige Versenkung in die innere Welt ist deutsche Art. Er hatte sie. Auf fremdem Boden erwachsen, auf deutschen verpflanzt, hat er auch jene andere deutsche Gnadengabe bewährt: zu allen Völkern allverstehend und allverständlich zu reden in der Weltsprache der Töne.

Und ein Erzieher zur Kunst ist er gewesen. Zu der Kunst, die nicht nach Beifall hascht oder nach Golde drängt; zu jener verinnerlichten Kunst, die rein um ihrer selbst willen da ist und sich einfach gibt, ohne zu begehren.

In dieser Eigenart seines Wesens war es wohl tief begründet, daß sein Herz vornehmlich an den alten Meistern und ihren unmittelbaren Erbfolgern hing. Was Goethe einst aus Italien heimbrachte: Einfalt und Stille, das gaben ihm die Klassiker deutscher Musik. Das hat er nach kurzem Schwanken für immer festgehalten. Nicht, daß er neuen Bahnen sich verschloß. Nicht, daß er, der Landsmann Liszts, nicht auch mit diesem Freunde gefühlt hätte. Aber die Linie seines Innersten lief in anderer Richtung. Von dem geliebtesten Lehrer seiner Jugend, Mendelssohn, erbte er mehr als den Taktstock, seines Geistes Hauch. Und ganz aus der Seele war ihm der Ruf des Großen von Bayreuth: 

“Ehrt eure deutschen Meister!
So bannt ihr gute Geister!”

Großes war ihm gegeben — gute und vollkommene Gaben — Größeres gab er zurück.

Nun hat der, der ihn uns schenkte, diese seine Gabe wieder gefordert. Es ist ein sonderlicher und wehmütiger Gedanke, daß die Töne, die seine Saiten klangen, so, in dieser Persönlichkeitsstimmung, nie wieder durch die Welt erklingen werden.

Und wieder einmal geht ein Mitwirkender aus Deutschlands Heldenzeit dahin. Während man mit den Massen das Reich erkämpfte, hat er hier in der Hauptstadt sein klingendes Reich begründet und beherrscht und unser Volk groß machen helfen durch deutsche Art und Kunst. Hier war er für Unzählige das musikalische Gewissen. Nun ist er all den Meistern nachgegangen, die längst vor ihm verstummten.

“Aber, Freunde, nicht solche Trauertöne! Sondern laßt uns freudigere anstimmen!” Es gibt ein Gesetz von der Erhaltung der Kraft auch im geistigen Leben. Töne sind Wellen, die weiter fluten, unmeßbare Wirkung zeugend, durch die Äonen. Und mehr noch! Wenn in antiker Zeit ein Gottgeliebter starb, so tröstete man sich: “Ist der Leib zu Staub zerfallen, lebt der große Name noch.” 

Er, der hier vor uns ruht, glaubte Höheres. Nach Mendelssohns Tode schrieb er: “Wir wollen sehen, daß wir in seinem Geiste weiterarbeiten, auf daß wir dem erhabenen Ziele immer näher rücken, damit wir einst mit gutem Gewissen vor unseren Meister treten können” Das ist es, was wir hoffen. Und jedes Scheiden einer Persönlichkeit wie dieser stärkt uns von neuem in dem Glauben, daß wir mit dem, was licht in uns war, begnadet von ewiger Liebe, am Ziele unserer Erdentage eingehen dürfen zu dem Vater des Lichts.


imageKaiser-Wilhelm-Gedächtnis-Kirche, Berlin, ca. 1900


A song has died away, the melody of a great human life. And as when the master lowers his violin and everything remains in deep silence, listening to the resonating notes within – that is our mood at the coffin. Above all for you, who, out of the full resonance of this life, have been able to perceive the most beautiful sound: that of the Father’s love. But far beyond the circle of those who were humanly bound to him, far across lands and seas, where there is but one ear and one heart into which a single note of his has ever penetrated, something of this life reverberates.

But now that the great silence has come, into which all living things shall sink, it behooves us to reflect, as before all great realities, so also before this one, on whence it came and what it means to us. And as we survey this human existence, we can hardly help exclaiming: “What a life!” We call happy the good things that seem to fall into our lap — and what would not have befallen him? Nurtured by attentive parents, encouraged by understanding friends, educated in the best schools, he delighted thousands while still a child, and the world at that time called him “a marvelous phenomenon.” And yet, no overwrought Wunderkind — a healthy soul grows in a healthy body.  As a young man, he stands on a par with the masters of his art, admired and loved by them without envy. The best of his time become his friends. An art-loving prince solicits his services. A maestra of song joins him as a companion in life. And as the new German Empire begins to emerge, he is called upon to found this high school of music in its capital. His artistic career lasts almost forty years. At an age when the rest of us are still playing in the nursery, he is already serving, a little priest of beauty. In years when most people have long since retired, he performs his duties without a thought of leisure. What the world has to give an artist in the way of laurels, he has reaped. And when the fatal illness comes over him, he may, carried by childlike gratitude, say contentedly: “It is so beautiful to be loved,” and finally pass away without struggle. Truly, an earthly passage reminiscent of the sun’s-orbit of the greatest poet. Shall we say of him: he was a darling of destiny? Or shall we say: he has forged his own life’s happiness? Scarcely would either be true for him. The one would be too little respectful for him, the other too immodest. “Art is holy to me; I could gladly sacrifice my life for it,” he wrote as an eighteen-year-old. He who speaks in this way attributes to himself a nobler source than that of being a product of blind powers or of his own merit. Rather, what he is and can do comes to him as a gift. Good gifts were laid in his cradle, and he developed them to perfection as far as that can be said of a man. “But all good gifts and all perfect gifts,” — he knew it — “come down from above”; let us also say: “from below” — what is the matter with that? The best that we carry within us — what fills us with shivers of awe and love — came from the highest heights to which our thought dizzily ascends — it comes from the deepest depths into which we gaze down in wonder, from where the springs of life flow; it comes — even our departed one has confessed to this — from the “Father of Light” from whom all that is good and beautiful mysteriously radiates.

And because he saw his genius as something that belonged to him and yet did not belong to him, he passed on what was given to him as a matter of self-evident responsibility. Hence the peculiar seriousness about life, which was already agreeably noticeable in the boy and distinguished him from the genial behavior to which so many highly gifted people believe themselves entitled. Truly, one can question which was the greater of what he gave us: his art or his personality. Both are, after all, inseparable. He has admonished us once again what an artist is. To be an artist is not just to be an expert — who was such, if not he? — but being an artist means more: being a whole person who carries a world of his own in his bosom, a world that resounds in sacred chords, and who opens it up to fellow human beings. And again from this followed the selfless objectivity of this artist, who was submerged in his work. Wasn’t it in the magic he repeatedly worked that one thought to hear the tone-poet himself, whose composition he reproduced? One may call that a rare sense of style. It was more than that: it was a moral force at work; indeed, a religious conception of art, over which the words of the Master of Nazareth also hover: “I have not come that I might be served, but that I might serve.” — He who thus sets the whole man to the great cause cannot but deepen his own humanity on all sides. So we are not surprised that this musician also attends the University; that he, a teacher of world renown, still sits learning in the lecture hall. He was convinced: one can never be good enough to call forth something out of yourself. And what was the driving force in him, when he, as a boy, conjured up Beethoven’s soul, straining all his senses with the strings of life amid the breathless silence of thousands; when, as director of this house, he conscientiously attended to sober daily business or educated one generation of pupils after another; when he cultivated Hausmusik in his own intimate circle; when he put his skill at the service of charity?

“Though I speak with the tongues of men and of angels, and have not charity, I am become as sounding brass, or a tinkling cymbal.” Yes, call it what you will, this wonderful something, without which even the highest artistry, like all humanity, remains hollow sound; call it: love of the subject, love of the idea — it is, after all, in the deepest essence, love of God.

Therefore: it was a German artist. It is no exaggeration, but only grateful recognition of what has been given to our people from above, when we say: this complete immersion in the inner world is German in character. He had it. Reared on foreign soil, transplanted to German, he also proved that other German gift of grace: to speak to all peoples in an all-comprehending and all-comprehensible way in the world-language of tones.

And he was an educator for art. To the art that does not seek applause or strive for gold; to that innermost art that exists purely for its own sake and simply gives itself without demanding.

It was perhaps from this deeply rooted peculiarity of his nature that his heart was especially attached to the old masters and their immediate successors. What Goethe once brought home from Italy: simplicity and stillness — the classics of German music gave to him. After a short period of wavering, he held on to that forever. Not that he closed himself to new paths. Not that he, Liszt’s compatriot, did not also feel sympathy for this friend. But the line of his inner being ran in a different direction. From the most beloved teacher of his youth, Mendelssohn, he inherited more than the baton: the breath of his spirit. And completely from his soul was the call of the Master of Bayreuth:

“Honor your German masters!
This is how you summon good spirits!

Great things were given to him — good and consummate gifts — greater things gave he back.

Now the one who gave him to us has reclaimed his gift. It is a strange and melancholy thought that the notes which his strings sounded will never again resound through the world with his temperament.

And yet again, a member of Germany’s heroic era passes away. While struggling with the masses for the empire, he founded and ruled his sounding empire here in the capital, and helped to make our people great through German character and art. Here he was the musical conscience for countless people. Now he has followed all the masters who long before him fell silent.

“But, friends, not such sounds of mourning! Rather, let us sing more joyful ones!” There is a law of conservation of energy even in spiritual life. Sounds are waves that continue to flow, producing immeasurable effect, through the ages. And more! In ancient times, when a beloved of God died, people consoled themselves, “When the body has turned to dust, the great name lives on.”

He, who rests here before us, believed in higher things. After Mendelssohn’s death he wrote: “We wish to see to it that we continue to work in his spirit, so that we come ever closer to the sublime goal; so that we can one day stand before our master with a clear conscience.” That is what we hope. And every departure of a personality like this one strengthens us anew in the belief that we, with what light was in us, graced by eternal love, may approach the Father of Light at the end of our days on earth.


Translation: Ⓒ 2021 Robert W. Eshbach. Please acknowledge the source.


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Kaiser-Wilhelm-Gedächtnis-Kirche, Berlin, 1906