Unsere Zeit. Deutsche Revue der Gegenwart, Vol. 8, Zweite Hälfte, Leipzig: 1872, pp. 312-323.
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Gumprecht — Joseph Joachim, der König der Geiger
Joseph Joachim, der König der Geiger
von
Otto Gumprecht
Oft genug hat man unsere Zeit wegen ihrer musikalischen Unfruchtbarkeit gescholten, und wer wollte es leugnen, auf den verschiedenen Gebieten des praktischen Lebens bethätigt sie ungleich mehr schöpferisches Vermögen als in dem der künstlerischen Phantasie unterthänigen Reiche des schönen Scheins. Weder unfern erlauchten nationalen Dichtern noch unfern großen Meistern der Töne, wie sie aus dem 18. Jahrhundert zum Theil in das 19. hineinragen, sind ebenbürtige Nachfolger erstanden. Versunken für immer scheint der geistige Boden, auf welchem Wunderblüten gediehen, wie die Mozart’schen Opern und die Beethoven’schen Symphonien. Ja selbst die Tondichter zweiter Ordnung, die Schubert, Weber, Mendelssohn und Schumann, sind uns ausgestorben. Demüthig blickt zu ihrer Größe der Nachwuchs empor, von ihrer Kraft Beistand, ihrem Reichthume Almosen heischend. Irre und rathlos schwankt das musikalische Schaffen der Gegenwart hin und her zwischen den immer ohnmächtigern und schattenhaften: Nachbildungen des klassischen Ideals und den unsicher tastenden Anläufen und Versuchen, eine noch unbekannte Welt des Schönen zu entdecken. Das Neue, das wir Hervorbringen, ist nicht das Wahre, und das Wahre nicht neu, und doch kennzeichnet allein die Bereinigung dieser beiden Eigenschaften die echten Thaten des Genius.
Wenn nun aber die musikalische Production unserer Tage an Umfang und Bedeutung hinter einer begnadigtern Vergangenheit unendlich zurücksteht, so soll uns das nicht überraschen oder betrüben. Auch sind wir darum noch keineswegs der Meinung, daß das Menschenalter, in dem wir leben, unter die rühmlosesten Kapitel der Kunstgeschichte zähle. Im Haushalte der Natur wie in dem des Geistes folgt, vermöge eines unabänderlichen Gesetzes, auf jede Periode üppigsten Wachsthums und Gedeihens eine andere, in welcher tausend fleißige Hände den herangereiften Segen einernten, zubereiten und nach allen Seiten hin vertheilen, während zugleich tief unten im verborgenen Grunde die schaffenden Kräfte zu künftiger Fruchtbarkeit sich sammeln. Der Frühling der Tonkunst mit seiner bunten Blütenpracht, der Sommer und Dorherbst mit der strotzenden Fülle goldiger Früchte, sie liegen hinter uns, aber ihre Gaben werden vom heutigen Geschlecht hoch in Ehren gehalten, aufs sorglichste gehegt und gehütet, durch seine rührige Tätigkeit zu immer häufigerm und verständnißinnigerm Genuß dargeboten. Wahrlich, unsere Zeit ist keine müßige Erbin, die eine überreiche Verlassenschaft verpraßt oder nutzlos verkommen läßt, nein, sie versäumt nichts, um in froher Arbeit von der gesammten, ihr zugefallenen Habe Besitz zu ergreifen, sie durch regsten Eifer und unermüdliche
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Ausdauer in ihr geistiges Eigenthum zu verwandeln. Weit vor sich aufgethan hat sie die unermeßlichen Schatzkammern der Kunst, welche das ununterbrochene Schaffen von drei Jahrhunderten mit den edelsten Gütern des Geistes bis an den Rand gefüllt. Keine Anstrengung scheut sie, um alles zu sammeln, zu sichten, zum Leben zu wecken, was auch nur die tondichtende Phantasie von Palestrina bis hinab auf die Gegenwart hervorgebracht. So viele Namen, die noch unsern Vätern ein todter Klang gewesen, sie sind wieder auferstauden in segenspendenden Thaten. In ihrer ganzen Herrlichkeit mitten unter uns wandeln die Meister, auf deren Werken ehedem nur das Auge des einsamen Forschers geruht. Gehörte früher die Musik zu dem kostbaren Luxus einer enggeschlossenen, hocharistokratischen Gesellschaft, so sehen wir sie jetzt hinaustreten unter die Massen und als allen sich darbietendes Gemeingut über Vornehme und Geringe, die Kenner und die Laien das Füllhorn ihrer Gaben ausgießen. In der Erziehung unserer Jugend nimmt sie eine bevorzugte Stelle ein. Zu dem Dilettantenthum, das sich an ihr heranbildet, liefern sämmtliche Volksklassen ihren reichlichen Beitrag. Das Klavier ist geradezu ein unentbehrlicher Theil unsers Hausraths geworden. In zahllosen wohlfeilen Ausgaben verbreitet der Musikhandel die Werke der Classiker. Allenthalben, wo in unserm Vaterlande Menschen gesellig beieinanderwohnen, finden wir unter ihnen die Tonkunst als vornehmste Freudenspenderin. Geschäftig sind jahraus jahrein eine Menge größerer und kleinerer Orchester, den Cultus Haydn’s, Mozart’s und Beethovens in immer weitere Kreise zu tragen. Für ihre Symphonien, Ouvertüren, Streichquartette erwärmt und begeistert sich dasselbe Publikum, das einst lediglich an lockern Tänzen und Potpourris sein Behagen hatte. Ein mehr oder minder mannichfaltig organisirtes Concertwesen begegnet uns nicht allein in den volkreichen Mittelpunkten des Verkehrs, sondern beinahe in jeder Provinzialstadt von auch nur einiger Bedeutung, und wo man sich bescheidener behelfen muß, da sorgen doch Männergesangvereine und Liedertafeln dafür, daß dem Leben der Festschmuck der Töne nicht gänzlich fehle. Mit diesem massenhaften Musiktreiben und Musikgenießen hält aber die Erkenntniß rüstig Schritt. Wir vertiefen uns in die Betrachtung der Bedingungen, unter denen die verschiedenen Völker und Zeitalter wie die einzelnen Componisten an ihr künstlerisches Tagewerk gingen. In dem Entwickelungsgange der Meister entgeht uns auch nicht der kleinste Umstand, wir sammeln ihre Denkwürdigkeiten, schildern ihre innern und äußern Erlebnisse in bändereichen Biographien. Wir dringen mit Hauptmann und Helmholtz bis zu den verborgenstem mathematischen und physikalischen Grundlagen der Musik und suchen auf tausenderlei Wegen für die ebenso unwiderstehliche wie geheimnißvolle Macht, die sie über das Gemüth übt, die wissenschaftliche Erklärung. Zu allen diesen Erscheinungen, welche das Tonleben unserer Zeit charakterisiren, kommt endlich noch vielleicht als der glänzendste Zug in der künstlerischen Signatur der Gegenwart eine ehedem unerreichte Virtuosität der Ausführung. Wir schreiben keine Beethoven’schen Symphonien, Quartette und Sonaten mehr, aber wir hören sie ungleich vollendeter als diejenigen, denen sie zum ersten mal ihre Wunder erschlossen. Der ununterbrochene Verkehr mit den Werken des Meisters und seiner Nachfolger hat wenigstens auf dem instrumentalen Gebiete eine Generation von Spielern großgezogen, in jedem Stücke würdig ihrer erlauchten Lehrer und Bildner. An der Spitze dieser erlesenen Schar schreitet Joachim, der König der Geiger. Unbegrenzter Beherrscher seines Instruments, aber zugleich mit dem höchsten Können das reinste Wollen vereinigend, zeigt er uns als Mensch und als Musiker das Virtuosenthum in seiner idealsten Gestalt. Die gefeierten Helden der Bühne und des Concertsaales, die nicht wie der Dichter und Componist nur mit ihren Thaten, sondern immer auch mit ihrer Person dem Publikum gegenüberstehen, laufen sehr leicht Gefahr, das naturgemäße Verhältniß zwischen der
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Kunst und dem Künstler in sein Gegentheil zu verkehren, diesen auf Kosten, jener zu erhöhen, sie lediglich zu einem den Sonderinteressen des eigenen Ichs dienenden Mittel herabzusetzen. Von unzerstörbarem geistigem Adel müssen sie sein, sollen nicht anders durch das Gold und den Beifall, die man ihnen aus vollen Händen spendet, zwei der engherzigsten Leidenschaften in ihrer Seele großgezogen werden, unmäßige Freude am Erwerb und gefallsüchtige Eitelkeit. Ueber Joachim’s Wesen haben diese Dämonen keine Gewalt, trotz aller Lorbern, die sein Haupt schmücken, ist er schlicht, lauter und selbstlos geblieben. Wie er es stets verschmäht, durch effectsüchtige Künste um die Gunst der Massen zu werben, so hat es ihm im Gegensatz zu so vielen seiner Berufsgenossen nie für ein begehrenswerthes Ziel gegolten, Reichthümer aufzuhäufen. Als Spieler ein unermüdlicher Anwalt der geliebten Meister, vor deren Angesicht die Hörer mit treuer Hand geleitend, als Lehrer einen hoffnungsvollen Nachwuchs von Schülern zu Fortsetzern des eigenen Tagewerks erziehend, sucht und findet er in der unausgesetzten gewissenhaften Erfüllung dieser doppelten Lebensaufgabe seinen höchsten Lohn.
Joseph Joachim wurde in Kittsee, einem unbedeutenden Dorfe bei Preßburg, am 26. Juni 1831 geboren. Sein Vater war ein wenig bemittelter Geschäftsmann, er selbst das jüngste von sieben Kindern. Bevor er das erste Lebensjahr vollendet, siedelte die Familie nach Pesth über. In wie zartem Alter das musikalische Talent sich anzukündigen pflegt, dafür liefert die Jugendgeschichte der meisten namhaften Componisten und Virtuosen zahlreiche Belege. Auch in der frühen Kindheit des größten Geigers, welchen die Gegenwart kennt, fehlte es nicht an solchen vorzeitigen Offenbarungen des spätern Berufes. Der liebste Spielkamerad war ihm eine Guitarre, die nach der damals noch vielfach herrschenden patriarchalischen Sitte bei den Gesangsübungen der ältesten Schwester zur Begleitung benutzt wurde. Stundenlang machten sich die kleinen Hände mit dem Instrument zu schaffen, das Gesicht strahlte vor Freude, wenn sie nach emsigem Untersuchen ein wohlklingendes Intervall gefunden und es immer von neuem wieder anschlugen. Der Vater, dies rastlose Treiben mit stillem Behagen gewahrend, brachte einst vom Jahrmärkte eine Kindervioline nach Hause. Auf dieser wurde nun vom Morgen bis zum Abend nach Herzenslust gestrichen. Zuerst schwirrten und kreischten die Saiten gar unwillig, doch bald lichtete sich das Chaos. Einzelne goldreine Töne klangen aus ihm hervor, die sich sehr bald zu melodisch und harmonisch bestimmten Reihen ordneten. Auf ungarischem Boden wuchert bekanntlich eine unerschöpfliche Fülle charakteristischer Volkslieder und Tänze. Die treuesten Verwalter dieses musikalischen Nationalschatzes sind aber die Zigeuner. An den warmblütigen, in jähem Wechsel himmelhoch jauchzenden und zum Tode betrübten Weisen, die sie Tag für Tag auf den Straßen und Plätzen der Stadt umhertragen, hing mit Entzücken das Ohr des Knaben, und alles, was er gehört, geigte er nach. Von Servaczinski, dem damals hervorragendsten Violinisten in Pesth, erhielt er den ersten Unterricht; er verdankte ihm eine sorgfältige Ausbildung der linken Hand, von der die Sicherheit der Intonation wie die Klarheit und Fertigkeit des Passagenspiels abhängen. Bereits im siebenten Jahre war er so weit vorgeschritten, um sich getrost in die Oeffentlichkeit zu wagen. An einem schwierigen Doppelconcert von Eck, das er unter dem Beifallsjubel des Publikums gemeinschaftlich mit dem Lehrer ausführte, verdiente er sich seine Sporen. Für den jungen Virtuosen wurde jedoch nach diesem Erfolge die Heimat zu eng. Was sie an musikalischem Bildungsstoff besaß, hatte sie ihm freigebig geboten; aber nur in einem der großen Mittelpunkte künstlerischen Lebens konnte sich seine Erziehung vollenden. Zwei Brüder seines Vaters [sic] gehörten zu den angesehenen Kaufleuten Wiens, sie erboten sich, für den Neffen zu sorgen. Georg Hellmesberger wurde ihm zum Lehrer gegeben, dieser erklärte indessen, nachdem der Unterricht neun