Paul Bekker, Klang und Eros, (vol. 2 of Gesammelten Schriften), Stuttgart & Berlin: Deutsche Verlags-Anstalt, 1922, pp. 215-219.
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Bekker, a devotee of the New German School, here gives a sympathetic but unsentimental look at Joachim’s life and career. In some instances (such as his remark about Joachim’s staccato) he is undoubtedly wrong, but, overall, his judgement seems fair.
Joachim (1907)
By Paul Bekker
Paul Bekker (1882-1937)
Manchen reißt das Schicksal im freudigsten Anstieg aus der Bahn, mancher tritt auf der Höhe seines Wirkens vom Schauplatz ab — Joseph Joachim hatte seinen Lauf vollendet, als er heimberufen wurde. Es war ein reiches, schönes Leben, dem auch noch im Tode peinigende Schmerzen erspart blieben. Was ihm zu sagen gegeben war, hatte er ausgesprochen, seine Sendung war erfüllt. Wenn die ihm persönlich näher Stehenden den Verlust eines liebenswerten Menschen betrauern, so neigt sich der größere Kreis der Kunstwelt zum letzten Male vor Joachim als einem ehrwürdigen Denkmal einstiger großer Taten und Zeiten.
Zugleich mit den bedeutendsten Persönlichkeiten des vorigen Jahrhunderts, Liszt und Wagner, war Joachim erschienen. Mit ihnen verbunden, strebte er anfangs neuen Zielen zu, schwenkte dann aber plötzlich ab und bekannte sich rückhaltlos als Gegner der neudeutschen Kunstideale. Schumann und der junge Brahms mußten ihm den Lisztschen Umgangskreis ersetzen. Ihre Gedankenwelt machte er von nun an zu der seinigen, ihren Anschauungen blieb er unerschütterlich treu, auch als die Zeit sich gegen ihn wandte und ihm offenkundig unrecht gab. Es liegt etwas Stolzes, Imposantes in diesem Festhalten an der erkämpften Überzeugung, in diesem unbeirrten Widerspruch gegen die künstlerischen Machthaber der Gegenwart. Es gehört Persönlichkeitswert dazu, um die Folgen einer derart hartnäckigen Opposition zu tragen: die Lockerung der Fühlung mit den vorwärtstreibenden Kräften, die immer stärker werdende Isolierung inmitten des reichsten Musikgetriebes der Welt. Etwas Tragisches liegt in diesem vergeblichen Ankämpfen gegen eine unbesiegbare Zeitströmung. Die Erkenntnis dieser Tragik spricht aus dem Wort, das Joachim im Leben begleitete: Frei, aber einsam.
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Einen Fortschritt auf rein violinistischem Gebiet hat Joachim nicht gebracht. Künstler, die der Technik neue Wege erschlossen, unbekannte Ausdrucksquellen aufdeckten, waren unmittelbar vor ihm Paganini und Spohr gewesen. Paganini als abenteuerlicher Zaubermann, dessen märchenhafte technische Künste Anlaß zur Legendenbildung gaben und die größten Geister seiner Zeit faszinierten. Spohr eine feinpoetische Natur mit reicher produktiver Veranlagung. Neben Spohr gehalten, verblast Joachims Bild ein wenig. Jener war der geborene Komponist, der zufällig Geige spielte. Joachim war der geborene Geiger, dem kein anderes Ausdrucksmedium zu Gebote stand, dem die Produktionskraft versagt blieb. Man kann von Spohrscher Technik, Spohrscher Kantilene sprechen, aber man kann die gleichen Worte nicht auf Joachim anwenden. Wir Jüngern, die ihn nicht mehr im Vollbesitz seiner Fähigkeiten hören konnten, sind ohne abschließendes Bild seiner Kunst, spätere Generationen werden ihn nur der Sage nach kennen. Paganinis oder Spohrs Spiel dagegen kann man sich immerhin aus ihren Kompositionen annähernd rekonstruieren.
Aber dieses Manko von Joachims Begabung wurde gleichzeitig das Fundament seiner Größe. War es ihm verschlossen, persönliche Eitelkeit zu pflegen, so nahm er sich der vererbten älteren Literatur um so eifriger an. War es ihm versagt, durch unentdeckte mechanische Fertigkeiten die Welt zu verblüffen, so strebte er desto inniger, die überkommenen Vorlagen geistig zu durchdringen, ihren Inhalt zu erforschen, als reproduzierender Künstler im edelsten Sinne aus seinem Spiel die Psyche des Werkes aufleuchten zu lassen. Ein natürlicher Ernst des Charakters ließ ihn von vornherein alle leichte Ware, alles Reißertum verschmähen. Eine gewisse, angeborene Schwerfälligkeit — es ist bekannt daß Joachim nie ein gutes Staccato besessen hat — hielt ihn noch mehr von der gangbaren Virtuosenliteratur zurück.
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So wandte er sein Können ungeteilt an die musikalischen Meisterwerke der Violinliteratur: Bach, Mozart, Beethoven. In der lebens- und schönheitsvollen Gestaltung dieser Stücke liegt der Schwerpunkt von Joachims Künstlerschaft. Hier war es ihm gegeben, ohne eigentlich selbstschöpferische Veranlagung doch produktiv im weitesten Sinne zu wirken, wenn man mit Goethe von einer “Produktivität der Taten” reden will.
Darin besteht das Merkwürdige, kulturhistorisch Bedeutende an Joachim: er ist eigentlich nur ausübender Instrumentalvirtuos. Seine angeborenen allgemein musikalischen Gaben sind aber so überragend, daß sie ihm eine Position verschaffen, wie sie sonst nur Künstler von umfassender Begabung einzunehmen befähigt sind. Bei ihm baut sich alles auf der Basis des Violinspiels auf. Aber die damit gegebene scheinbar enge Begrenzung verliert sich ganz, ein Musiker von denkbar höchstem Intellekt, von vielseitigster Aufnahmefähigkeit, von feinstem, allumfassenden Empfinden, von einer seltenen Bildung des Geschmacks, von Verständnis für die subtilsten Kunstfragen ersteht. Man muß diesen geistigen Vollgehalt von Joachims Natur erkennen, um seine Bedeutung für die Musikgeschichte richtig zu würdigen. Es ist daher schwer, den Geiger Joachim gesondert von dem Musiker zu betrachten, denn beide erklären einander.
Joachims Ton blendete und schmeichelte nicht durch empfindsame Sinnlichkeit. Seinem Spiel wie seiner Persönlichkeit lag jedes äußere Dekor fern. Es war ein Ton, der mehr innerlich wärmte, zu Fühlen und Denken in absoluter Reinheit anregte, ein Ton, der in seiner keuschen Schönheit etwas Transzendentes an sich trug. Joachims Spiel vergeistigte, verklärte. Es lag nichts Gefallsüchtiges, gar keine Koketterie darin, sondern das Streben zu abstrahieren, eine geheime Neigung zur Mystik. Das Mechanische blieb bei ihm stets in untergeordneter Bedeutung. Wenn er es
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schon liebte, seine etwas massive Doppelgrifftechnik gelegentlich hervorzukehren, so wußte er doch stets die rechtfertigende gedankliche Grundlage zu schaffen. Das bezeugen seine Kadenzen zu Beethovens Violinkonzert, die alle ähnlichen Versuche andrer Geiger überragen. Die übrigen Kompositionen Joachims, von denen hauptsächlich das ungarische Violinkonzert, die ungarischen Variationen sowie einige Ouvertüren bekannt geworden sind, haben nur durch den Namen ihres Autors zeitweilig Interesse erregt. Seine Werke zeichnen sich durch peinliche Gediegenheit aus, lassen aber wenig originelle Phantasie und Gestaltungskraft erkennen. Länger als der Komponist wird der Geiger Joachim in Gedächtnis der Nachwelt leben: als kongenialer Interpret Bachs und Beethovens in Solo- wie in Kammermusikwerken. Die Joachimsche Quartettkunst wird allen unvergeßlich bleiben, die sie je miterlebt haben. Was der Solist Joachim noch dem Virtuosestem an Tribut entrichten mußte, das fiel beim Kammermusikspiel gänzlich fort. Hier offenbarte sich die große, tiefschauende und denkende Persönlichkeit, die bis auf den Grund der Dinge blickt und geheimste Intentionen der schöpferischen Genien nachfühlend zu deuten weiß.
In verhältnismäßig einfachen Linien bewegt sich Joachims Lebensgang. Am 28. Juni 1831 zu Kittsee bei Preßburg geboren, kam er als Wunderzögling der Wiener Geigerschule bald in die Welt hinaus und empfing in Leipzig die letzte Einführung in alle Disziplinen der Musikwissenschaft. Von großen Kunstreisen, die ihn namentlich in England bekannt und populär machten abgesehen, bilden Weimar und Hannover die wichtigsten Stationen auf seinem Wege. 1868 vertauschte er Hannover mit Berlin, um hier die neugegründete Hochschule für Musik zu leiten. Bewunderungswürdig war die Frische und lebendige Rüstigkeit, die er sich bis auf die letzte Zeit bewahrte, wer ihn sah, staunte über die urgesunde, kräftige körperliche Natur des Sechsundsiebzigjährigen eben-
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so wie über sein wachsames geistiges Interesse für die ihn berührenden Dinge.
Joachim war der apollinische Künstler. Das Dionysische fehlte ihm. Seine Kunst trug priesterliche Züge. Wenn es etwas gibt, das alle Gegensätze versöhnend ausgleicht, so ist es die Überzeugung von der unantastbaren Reinheit, von dem stolzen Adel seiner Künstlerschaft.