Pester Lloyd, No. 195 (August 16, 1907), pp. 3-4.

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Joachim

— Nachruf. —

Von einem seiner einstigen Schüler.

In Schönheit leben — in Schönheit sterben: das viel mißbrauchte, noch öfter mißverstandene Wort Ibsen’s ist Wahrheit geworden. Die Kunde von Josef Joachim’s Tod ist da. Sechsundsiebzig Jahre alt ist er heute gegen 2 Uhr Nachmittag in Berlin gestorben. Und es wäre vergebliche Mühe, in der weiten Welt, auf den Gebieten praktischen Schaffens oder ideal-künstlerischer Bethätigung nach einem Lebenslauf zu suchen, der an Harmonie, Würde, Majestät dem Joachim’s verglichen werden dürfte. Selbst der Tod trat nicht rauh an das Lager dieses Künstlers heran. Die Qualen des Sterbens blieben ihm erspart, es gab keinen Kampf vor dem ewigen Frieden und kein erregtes Finale vor dem großen Schweigen. Auch die Trauer um den Entschlummerten wird fein müssen, wie er selber gewesen: groß, schlicht und ruhig. Die Klage um ihn wäre seiner nicht würdig, wollte sie in Phrase und Ueberschwang sich ergehen.

Seinen Werth abzuwägen, seine Bedeutung zu messen, ist schwer, doch nicht unmöglich. Nur hüten mag man sich nach gängigem Maß und Gewicht zu langen und wie bei anderen Künstlern die Persönlichkeit bis auf den letzten Nest ausschöpfen zu wollen. Das geht nicht bei Joachim, gleichwie es bei Beethoven nicht anging, obzwar dieser uns den besten Theil seines Genies als Erbe hinterließ, dessen Durchforschung schließlich uns doch zur Persönlichkeit des Erblassers führt. Um Joachim nach Gebühr zu schätzen, hat man heute eigentlich nur einen einzigen Prüfstein: das ehrfürchtige Schweigen der Nörgler, die Thatsache, daß sechs Jahrzehnte, hunderterlei Strömungen kamen und gingen, daß die Mode, der Geschmack von Musikergenerationen umstützende Wandlungen durchmachten, daß trotzdem der Kranz auf seinem Haupte grün blieb und keine der vielen Revolutionen im Reiche der Musik seinen Thron zum Wanken brachte. Selbst die extremsten Neuerer beugten sich ehrerbietig vor der Autorität, die Joachim mehr als fünfzig Jahre lang in der Musikwelt vertrat. Auch in seinem Leben hatte es eine Zeitspanne gegeben, in der er sich als Fortschrittler bekannte. Das war damals, als ihn intimere Beziehungen an Franz Liszt knüpften und der Meister den Adepten vor den Triumphwagen Richard Wagner’s spannen wollte. Allein Joachim that nicht lange mit. Er wollte, konnte auch nicht den Triumphzug aufhalten, aber das Tempo ging ihm wider den Strich, die Art der Propaganda behagte ihm nicht und so eigentlich fehlte ihm ja auch die tiefere Neigung für das dramatische Element in der Musik. Er selbst, als Komponist, fühlte sich zwar von Hamlet und Demtrius angezogen, allein die Art und Weise, wie er dann seine Aufgabe löste, bewies, daß sein ganzes reflektirendes Wesen immer wieder mit Vorliebe musikalischer Epik und Lyrik sich zuwandte. Er war ein Mann von seltenem Geist und starker Erkenntniß. Darum stemmte er sich weder gegen dasjenige, was wirkliche Entwicklung war, noch gegen das, was blos vorgab, Evolution zu sein. Das heißt, in seinem engeren Berufskreise machte er kein Hehl aus seiner Gegnerschaft, allein er fand das Allheilmittel gegen ungesunde Strömungen in der intensiven Pflege des Klassizismus. Als Lehrer und als ausübender Künstler war er der stärkste, der edelste Vorkämpfer der klassischen Richtung.

Sein ganzer Werdegang erklärt das. Man weiß, daß Joachim von Geburt Ungar, der Sohn eines armen Kittseer Lehrers war. Minder bekannt ist, daß er im alten Pest zwei Lehrer hatte, den alten Ellinger, der vor wenigen Jahren starb, und einen der besten Geiger jener Zeit, Szervaszinsky. Bei Ellinger erging es dem kleinen Joachim ungefähr so, wie später in Wien bei Hellmesberger sen., der den halbwüchsigen Jungen wegen Unbrauchbarkeit der rechten Hand aus der Schule entließ. Wie Ellinger über seinen Schüler dachte, erhellt am besten aus einer Anekdote, die in unseren Musikerkreisen noch heute fortlebt. Zwei Knaben genossen in einer und derselben Stunde Ellinger’s Unterricht: Josef Joachim und Karl M., nachmals ein sehr geschätzter volkswirthschaftlicher Schriftsetller. Der Professor wurde nicht müde, Joachim immerfort auf das Talent seines Unterrichtsgenossen zu verweisen, diesen als nachahmenswerthes Muster zu preisen, dem kleinen Josef aber jede Zukunft abzusprechen. Welche Prophetengabe in dem sonst ausgezeichneten Lehrer steckte, wurde schon ein Jahr später offenbar, als Joachim, der inzwischen bei Szervaszinsky überraschende Fortschritte gemacht hatte, im März 1839 öffentlich auftrat und in Gemeinschaft mit seinem Lehrer ein Konzert von Eck unter beispiellosem Jubel spielte. Der

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Kritiker des Blattes der damaligen vornehmen Welt, des “Spiegel”, sagte dem siebenjährigen “musikalischen Wunderknaben” eine beispiellose Carrière voraus und dieser Mann hatte mit seiner Prophezeihung entschieden mehr Glück als der brave Ellinger.

Auch seine weitere Ausbildung besorgten Ungarn: der in Wien lebende Virtuos Josef Böhm und dessen Schüler Heinrich Wilhelm Ernst, und schon dem zwölfjährigen Knaben war dann gegönnt, im Leipziger Gewandhause zu konzertiren, nachdem Ferdinand David, einer der berühmtesten Geiger seiner Zeit und vor Allem Felix Mendelssohn-Bartholdy des kleinen Ungars sich angenommen hatten. Die Urtheile gewiegter Fachmänner stimmten in dem Punkte überein, daß man es da mit einem Phänomen zu thun habe, dem nur zu wünschen sei, “daß seine Gesinnung so natürlich und anspruchslos bleibe, wie sie jetzt ist, sein Fleiß so emsig und sorgsam, wie er bisher gewesen sein muß”. Und da auch diese “Wünsche” sich erfüllten, wurde aus Joachim — Joachim. Welchen Einfluß übrigens ein Kreis wie Ferdinand David, Mendelssohn, Robert und Klara Schumann auf die geistige und seelische Entwicklung Joachim’s üben mußte — später trat noch ein wundersamer Puritaner, Johannes Brahms hinzu —, mag man sich leicht denken. Rührend war das Freundschaftsverhältniß, das im Laufe der Zeiten zwischen Schumann, Brahms und Joachim sich spann. Bei Klaus Groth lese man die ergreifenden Einzelheiten nach, ganz besonders die Schilderung jener dunklen Tage, da Schumann umdüsterten Geistes auf die Todtenbahre sank und dem Sarge des geliebten Freundes, barhaupt, Kränze in den Händen die beiden jungen Männer folgten: “Joachim dunkelbraun, Brahms hellblond, beiden Gesichtern in ebenso entschiedener Art die Genialität aufgeprägt.” Was anders hätte in solcher Umgebung aus Joachim werden können als ein Hüter und Pfleger der klassischen Ueberlieferungen? Beethoven’s Konzert machte ihn weltberühmt. Von dem Augenblicke an, da ihm Mendelssohn die Pforten der Londoner Konzertsäle erschlossen hatte, war seine Carrière entschieden. Man war entzückt, hingerissen von der wundersamen Stylreinheit seines Vortrages, von der Größe und Weichheit seines Tones, von der absoluten Vollendung einer Technik, die den Hörer über die gewaltigstn Schwierigkeitn hinwegtäuschte, ohne daß es dem Künstler je eingefallen wäre, mit solcher Fertigkeit zu prunken oder sie gar zu Virtuosenstückchen zu mißbrauchen.

Und da sind wir auch schon bei der edelsten, der hervorstechendsten Tugend Joachim’s angelangt. Bei seiner absoluten Selbstbeschränkung und Unterordnung unter den Geist, dem seine Kunst zu dienen vorhatte. Er war das unübertroffene, von keinem Zeitgenossen erreichte Muster des ausführenden Künstlers. Seine Mittel, sein souveränes Können hätten ihn gewiß befähigt, mehr zu bieten, als in einer Komposition drinn stand, alle erdenkbaren Hexereien spielen zu lassen, seine Hörer durch allerlei Blendwerk vom musikalischen Werke abzulenken. Niemals hat er das gethan. Mit rein äußerlichen Stücklein sich abzugeben, das war unter seiner Würde, aber einem klassischen Werke Gewalt anzuthun, es zu verstümmeln, den Geist und die strenge Formschönheit einer großen Komposition den Eitelkeitsgelüsten des Virtuosen hinzuopfern: das hielt er für ein Verbrechen. Und dieser Adel der künstlerischen Gesinnung, das Selbstgenügen: einem Kleinod diejenige Fassung zu geben, die alle Herrlichkeiten des musikalischen Juwels im rechten Licht erstrahlen läßt, — dieser seltene, ach so seltene Vorzug hebt Joachim hoch über seine Brüder in Apoll, macht ihn selber zum Klassiker unter den Geigern seiner Zeit. Seine strengen Grundsätze, sein eigenes musikalisches Ehrgefühl impfte Joachim später, als er 1869 Leiter der musikalischen Hochschule zu Berlin wurde, auch den Jüngern ein, die zu Hunderten kamen, um unter des Meisters Führung den Weg zur Künstlerschaft zu betreten. Was vorherging, Joachim’s Thätigkeit als Konzertmeister in Weimar, dann als Kammervirtuos in Hannover, das waren nur Episoden seines Lebens. Die erstere führt zu leichter Entfrremdung zwischen Joachim und Liszt, auch zu einer starken Spannung mit Wagner, der von Joachim’s Kompositionstalent wenig hielt, in vorderster Linie aber herzlich erbittert war, daß Joachim aus der Reihe seiner unbedingten Anhänger fahnenflüchtig geworden. Zu Wagner’s Ehre muß indeß bemerkt werden, daß selbst seine Verstimmung, sein Groll und seine üble Laune ihn nicht hinderten, Joachim’s Geigergenie anzuerkennen. Was im Uebrigen Haß und Gunst betrifft, die Joachim’s Schöpfergabe in den Bereich ihres Streites ziehen, so liegt die Wahrheit diesmal thatsächlich in der Mitte. Das “Konzert in ungarischer Weise” zählt unstreitig mit in der Violinliteratur, den Ouverturen fehlt dagegen die dramatische Wucht und stärkere Empfindung spricht uns nur dort an, wo Joachim auf fremde Motive sich stützen durfte, wie in den Hebräischen Melodien. In seinem unvergleichlichen Vortrage allerdings sang und klang Alles, gewann auch das Schwächliche Körper. Er hat als ausübender Künstler Schule gemacht, der Kunstwelt Meister wie Eugen v. Hubay, Theodor Nachèz, Karl Halir, Heinrich Petri, Franz Ondricek, Marie Soldat geschenkt.

Was Josef Joachim für die Kunst der Kammermusik bedeutet, das bildet ein besonderes Kapitel seines Ruhmes. Eines, das man speziell bei uns recht gut kennt und sicher nicht bald vergessen wird. Die Joachim-Quartett-Abende waren Jahrzehnte lang ständig wiederkehrende Erscheinungen unseres Konzertlebens und ebenso viele Quellen reinen, edlen Kunstgenusses. Aber auch heimgekommen, als Gast seines Geburtslandes, vermied er es wenn möglich, das nationale Moment zu berühren. Er fühlte sich durchaus als Deutschen. Was schließlich Niemanden Wunder nehmen darf. Draußen war er großgezogen worden, fern von der Geburtsstätte hatte er Förderer, Freunde, Familie, Ehren, Gold und Weltruhm gefunden, — Ungarn hatte Joachim an Europa verloren, wie Franz Liszt, wie Nikolaus Lenau. Den Tropfen Ungarblut, der ihm durch die Adern floß und heißer wallte, wenn er nach seiner Zaubergeige langte, den kriegte er freilich nicht los, trotz der deutschen Gelehrtenbrille, die er trug, trotz der deutschen Bart- und Haartracht. Das Fünkchen magyarischen Feuers war nicht zu ersticken in ihm; es durchwärmte seine Kunst, durchglühte sein Spiel und sprang über auf die Zuhörer, die mit zurückgedrängtem Athem lauschten, wenn Joachim ihnen auf seiner Geige die Träume Beethoven’s Bach’s oder Mendelssohn’s in die Herzen hineinsang, oder wenn er die Ziegeunerweisen aufstimmte und süße Wehmuth und jauchzende Leidenschaft aus den Saiten lockte. Den Saiten, die nun nimmer erklingen werden unter seiner erkaltenden Hand.


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