Wilhelm Altmann, Joseph Joachim †, Die Musik, Vol. 6 No. 24 (1906/1907), pp. 319-329.
Wilhelm Altmann (*1862 — †1951) was a German historian, musicologist and librarian. In 1900, he was named head librarian at the Königliche Bibliothek in Berlin, and in 1905 he became a professor of music there. After 1906, he was founding director of the Deutsche Musiksammlung at the Royal Library. From 1915 to 1927 he was director of the Music Division of the Preußische Staatsbibliothek. A violinist, he was a connoisseur of chamber music, and the author of several handbooks on the chamber literature.
Unverwüstlich schien Joseph Joachims Gesundheit zu sein, unverwüstlich seine Freude am öffentlichen Auftreten, die er zuerst am 17. März 1839 gekostet hatte, unverwüstlich auch der Erfolg, der seit seinen Knabenjahren ihm immer ein treuer Begleiter gewesen war. Da trat an den fast Sechsundsiebzigjährigen Ende März dieses Jahres, als er mit seinem Quartett auf einer Konzertreise in Wien weilte, der Engel des Todes mahnend heran. Es war ihm zwar noch vergönnt, seinen Berliner Quartettzyklus zum Abschluss zu bringen, bei dem Bonner Kammermusikfest und dem dritten (Eisenacher) Bachfest mitzuwirken, ja selbst noch in London zu konzertieren, wohin er sich seit 1844 alljährlich zu begeben pflegte, allein die Hoffnung, dass der Künstler uns in der nächsten Saison noch erhalten sein würde, durfte man kaum noch hegen. Zu den ernstesten Besorgnissen hatte man Grund, als gegen Ende Juni das Konzert der Königlichen Hochschule, in dem Joachim den “Elias” seines väterlichen Freundes und geistigen Wohltäters Mendelssohn aufführen wollte, wegen Erkrankung des greisen Künstlers an Influenza abgesagt wurde. Seitdem schwebte sein Leben in Gefahr, obwohl noch mancher Tag nicht gerade hoffnungslos sich anliess, bis in den ersten Augusttagen ein Schlaganfall sich einstellte, dessen Folgen der Altmeister der Geige am 15. August, nachmittags um 1 ¾ Uhr, erlegen ist.
Für das Kunstleben, und zwar nicht bloss das Berliner und Londoner, bedeutet sein Hinscheiden einen schweren Verlust, der vielen unersetzlich erscheinen dürfte. Der Zauber, den der Name Joachim ausströmte, die Verehrung, die er bei jung und alt genoss, war unbeschreiblich. Um so schwieriger ist es, so bald nach seinem Tode sein Wirken mit ruhiger Objektivität zu beurteilen. Sicher ist: seine Zeit war erfüllet; er ist von uns gegangen, nachdem er seine Mission beendet hatte. Vielleicht wäre sein Ruhm uns noch heller erchienen, wenn er freiwillig zugunsten jüngerer Kräfte schon vor einigen Jahren sich aus der Öffentlichkeit zurückgezogen hätte. Aber er brauchte wohl, um frisch zu bleiben, den Beifall und die Liebe des Publikums. Es war dies vielleicht eine kleine Schwäche an ihm; er war eben auch ein Mensch. [1]
Versuchen wir im folgenden in grossen Zügen sein Leben zu schildern und uns klar zu machen, was er als ausübender Künstler, als Lehrer seines Instruments, als Dirigent und auch als Tonsetzer geleistet hat. Wir werden sehen, dass er zu den Auserwählten gehört hat, dass seine Lebensarbeit eine ungemein fruchtbare gewesen ist, dass man ihm viel zu wenig Ehre angedeihen lassen würde, wollte man ihn nur als Geigerkönig bezeichnen.
Er hat die oft ausgesprochene Behauptung, dass aus einem Wunderkinde nie ein Künstler ersten Ranges werden könne, aufs glänzendste widerlegt. Als siebentes Kind einer nicht unbemittelten Kaufmannsfamilie ist er am 28. Juni 1831 in dem kleinen, etwa eine Stunde Wegs südlich von Pressburg gelegenen ungarischen Flecken Kitsee geboren worden. In Pest, wohin seine Eltern schon 1833 übergesiedelt waren, erhielt er schon frühzeitig Violinunterricht bei dem Konzertmeister der dortigen Oper Serwaczynski. Mit Staunen vernehmen wir, dass dieser Künstler mit ihm bereits am 17. März 1839 ein Doppelkonzert von Eck öffentlich vortragen konnte. Auf dringendes Anraten einer Wiener Cousine wurde der kleine Geiger, dessen Talent allgemein bewundert wurde, bereits im Sommer desselben Jahres nach Wien gebracht, um hier zunächst von dem berühmten Geiger Georg Hellmesberger sen., bald aber von dem hervorragenden, als Haupt der Wiener Schule geltenden Geigenpädagogen Joseph Böhm (1795 — 1876) zum Virtuosen und auch tüchtigen Musiker herangebildet zu werden. Fünf Jahre blieb Joachim in der österreichischen Hauptstadt, die damals noch in musikalischer Hinsicht weit mehr tonangebend als heute war, und studierte in diesem Zeitraum mit solcher Hingabe und solchem Ernst, dass sein Lehrer ihm schliesslich nichts mehr beibringen konnte und ihm riet, sich seinen letzten Schiff in Paris zu holen.
Doch wieder griff jene Cousine ausschlaggebend in sein Leben ein. Sie hatte mittlerweile infolge ihrer Verheiratung Wien mit Leipzig vertauscht und war so voll des Lobes über das Musikleben dieser Stadt und über deren musikalische Koryphäen, insbesondere über Mendelssohn und Robert Schumann, dass Joachims Eltern sich bewogen fühlten, den Knaben nach der Pleissestadt zu schicken. Hier öffnete ihm sein Talent bald alle Pforten; insbesondere nahm sich seiner Mendelssohn auf das freundlichste und nachhaltigste an. Dieser fand, dass der Wunderknabe keinen Lehrer für sein Instrument mehr nötighabe, veranlasste ihn aber, seine thoretischen Studien bei Moritz Hauptmann, dem berühmten Lehrer des Kontrapunkts und Thomaskantor, fortzusetzen und vor allem auch seine allgemeine Bildung durch gründlichen Unterricht in wissenschaftlichen Fächern zu vervollkommnen; er besorgte ihm auch in dem Magister Hering eine ungemein geeignete Lehrkraft und hatte bald die Freude, dass der “Teufelsbraten”, wie er den jungen Joachim zu nennen pflegte, auch in den Wissenschaften gut heimisch wurde. Neben Mendelssohn, mit dessen Familie Joachim bis zu seinem Tode in den inngsten Beziehungen blieb, förderten ihn auch Schumann, dessen Frau er später in reichstem Masse seine Dankbarkeit beweisen konnte, und Ferdinand David in jeder Hinsicht. Diesem spielte er gelegentlich Werke, die er neu studiert hatte, vor.
Das erste öffentliche Auftreten Joachims in Leipzig fand in einem Konzert der Sängerin Viardot-Garcia am 19. August 1843 statt; er trug, von Mendelssohn auf dem Klavier begleitet, dem Geschmack der damaligen Zeit entsprechend, ein Konzertstück von — De Bériot vor. Bereits im folgenden Jahre finden wir ihn zum ersten Male in London, wo von da ab keine Konzertsaison ohne sein Auftreten mehr möglich zu sein schien. Hier spielte er am 27. Mai 1844, und zwar unter Mendelssohns Direktion, das damals noch wenig beachtete Violinkonzert von Beethoven, [2] das er dann im Laufe der Jahre geradezu populär gemacht hat. Natürlich war auch Mendelssohns Violinkonzert bald eine ständige Nummer seines Repertoires, das in bezug auf Geigenkonzerte sich in den letzten Jahren ausserdem auf die Bachschen, auf die Mozartschen (namentlich in A-dur und D-dur), Viotti’s a-moll No 22, die Spohrsche Gesangsszene, auf sein ungarisches und sein G-dur Konzert, auf Bruch No. 1 und 3 und vor allem auf Brahms (auch Doppelkonzert) erstreckte; dazu kamen noch an Werken mit Orchesterbegleitung die gern gespielte Schumannsche Fantasie und die Romanze von Bruch op. 42.
Auch nach Mendelssohns Tod blieb Joachim noch in Leipzig, wo er als zweiter Konzertmeister dem Gewandhausorchester angehörte. Als er im Oktober 1850 einem Rufe als Konzertmeister nach Weimar folgte, schied er von “Klein-Paris” mit dem sicheren Bewusstsein, sich hier eine höhere künstlerisch-ästhetische Bildung angeeignet zu haben, sowie im Besitz eines höchst gediegenen, dem Virtuosenstandpunkt durchaus entgegengesetzten musikalischen Geschmacks zu sein. Es war ganz natürlich, dass in Weimar die eminente Persönlichkeit seines grossen Landsmannes Franz Liszt, der ihn auch berufen hatte, auf Joachim einen sehr starken Einfluss ausübte. Mit ihm zusammen komponierte er eine ungarische Rhapsodie “für Klavier und Violine”, die er später fast verleugnet zu haben scheint; unter Liszts Einfluss entstand im Stile von dessen symphonischen Dichtungen, bald nachdem Joachim im Anfang des Jahres 1853 als Königlicher Konzertmeister nach Hannover übergesiedelt war, seine “Hamlet”-Ouvertüre. Als er sie an Liszt am 21. März 1853 sandte, schrieb er dabei folgende bedeutungsvolle Worte: [3] “Der Kontrast aus der Atmosphäre hinaus, die durch Ihr Wirken rastlos mit neuen Klängen erfüllt wird, in eine Luft, die ganz tonstarr geworden ist von dem Walten eines nordischen Phlegmatikers [4] aus der Restaurationszeit, ist zu barbarisch! Wohin ich auch blicke, keiner, der dasselbe erstrebt wie ich; keiner statt der Phalanx gleichgesinnter Freunde in Weimar. Die Kluft zwischen dem heftigsten Wollen und dem unmöglichen Vollbringen gähnte mich verzweifelt an. Ich griff da zum ‘Hamlet’. Die Motive zu einer Ouvertüre, die ich schon in Weimar habe schreiben wollen, fielen mir wieder bei.”
Durch Liszt trat Joachim auch in Beziehungen zu Richard Wagner, dessen “Lohengrin” ihn hoch begeistert hatte; nach dem Karlsruher Musikfest 1853 besuchte er in Gemeinschaft mit Liszt, Hans v. Bülow, Peter Cornelius u. a. den grossen Verbannten, der aus seinem Züricher Asyl zum Treffpunkt nach Basel gekommen war. Von ihm erhielt er denn auch zum Sittener Musikfest 1854 eine Einladung. Man kann sich denken, wie schmerzlich Wagner und Liszt es empfanden, als Joachim, für den in Hannover die Stellung eines Konzertdirektors geschaffen worden war, sich ihnen mehr und mehr entfremdete, bis er 1860 in Gemeinschaft mit Brahms, Julius Otto Grimm und Bernhard Scholz sich von ihnen öffentlich lossagte. [5]
Diese Sinnesänderung Joachims ist in erster Linie auf seine Freundschaft mit Johannes Brahms zurückzuführen, der mit ihm durch den Geiger Remenyi bekannt geworden war. Als sie einander kennen lernten, stand Joachim sowohl als reproduzierender wie auch als schaffender Künstler weit über Brahms, war sich aber sofort darüber klar, was in diesem schlummerte. “Er war nicht nur der erste überhaupt,” sagt Andreas Moser, “der Brahms’ Genius in seiner ganzen Bedeutung erkannte, sondern, was ungleich schwerer wiegt, er hat trotz aller Misserfolge, von denen die meisten seiner [Brahms’] Werke bei ihrem Erscheinen begleitet waren, ungeachtet aller persönichen Anfechtungen, in unerschütterlicher Treue an ihm festgehalten und keinen Tag seines Lebens das volle Vertrauen auf den endlichen Sieg seines Freundes verloren.” Je mehr sich in Joachim die Erkenntinis von Brahms’ Bedeutung bekräftigte, um so weniger hatte er Neigung, selbst sich als Komponist zu betätigen. Ursprünglich bestand in bezug auf das Schaffen zwischen beiden gleichstrebenden Freunden ein edler Wetteifer; jahrelang sandten sie sich regelmässig alle acht Tage Studien im doppelten Kontrapunkt, Kanons, Fugen, Präludien, Choräle, Variationen und dergleichen zu, die sie aufs strengste gegenseitig prüften, um auf diese Weise Meister des musikalischen Satzes zu werden. Von Hannover aus besuchten sie auch zur Vervollkommnung ihrer Bildung Vorlesungen an der Universität Göttingen.
Bereits in den fünfziger Jahren des 19. Jahrhunderts galt Joachim als der erste der lebenden Geiger; allgemein wurde schon damals anerkannt, dass bisher noch niemals ein Virtuose sich so dem Musiker untergeordnet habe. Wilh. Joseph von Wasielewski, einer der sachverständigsten Beurteiler, schrieb im Jahre 1860 folgendes Urteil über Joachim nieder, das in geradezu mustergültiger Weise die treffendste Charakteristik über den Geiger Joachim abgibt: “Joachims unvergleichliches Violinspiel zeigt das wahrhafte Musterbild, das Ideal eines vollkommenen Geigers mit Beziehung auf unsere Gegenwart natürlich. Weniger kann und darf man nicht von ihm sagen, aber auch nicht mehr, und es ist genug. Was aber diesen ersten aller lebenden Violinisten ausserdem so hoch über das jetzige Virtuosentum nicht bloss seiner Fachgenossen, sondern der ganzen Musikwelt hinaushebt ist die Tendenz, in der er seinen Beruf ausübt. Joachim will nicht Virtuose im herkömmlichem Sinne, er will Musiker vor allen Dingen sein. Und er ist es — ein bei seiner absolut dominierenden Stellung um so nachahmenswerteres Beispiel für all jene, die vom Dämon kleinlicher Eitelkeit besessen, immer nur ihr langweiliges Ich zur Schau stellen wollen. Joachim macht Musik, seine eminente Leistungsfähigkeit befindet sich allein im Dienste der echten, wahren Kunst, und so ist es recht. Man muss diesen Künstler dafür besonders lieb und wert halten.” Nicht vergessen darf auch werden, dass Joachim der Geigerwelt die Solo-Sonaten von Bach eigentlich erst erschlossen, dass er sie, for allem die Ciaconna aus der vierten Sonate, ausserdem auch die sogen. Teufelstriller-Sonate von Tartini geradezu populär gemacht hat.
Die Wertschätzung Joachims wuchs in noch höherem Masse, als er 1869 in Berlin, wohin er von Hannover zunächst als Privatmann übergesiedelt war, beauftragt worden war, die Königliche Hochschule für Musik mit ins Leben zu rufen. [6] Er hat hier eine wahre Hochschule für Geiger begründet; seine zahlreichen Schüler sitzen als Konzertmeister nicht bloss in den ersten Orchestern Deutschlands, sondern auch Englands und Amerikas. Mit Recht durfte sein Biograph Andreas Moser sagen: “Es dürfte schwer fallen, für die hingebende Treue und gewissenhafte Pflichterfüllung, mit der Joachim vom Tage der Gründung bis auf die heutige Stunde dem Ausbau und der Entwicklung der Hochschule seine besten Kräfte gewidmet hat, ein auch nur annäherndes Beispiel an die Seite zu stellen. Nur der lauterste Idealismus und das freudige Bewusstsein, Gutes und Segenbringendes zu stiften, können die aufopfernde Mühewaltung erklären, die er an seine Schöpfung gewendet hat.” [7]
Dass er die Hochschule vorwiegend in musikalisch-konservativem Sinne leitete, war bei seinem ganzen Entwicklungsgang nur natürlich, doch hätte es nichts geschadet, wenn mit den Modernen [8] etwas mehr Fühlung genommen worden wäre. Dass aber die Nennung des Namens Richard Wagners bei Joachim verpönt gewesen sei, wie bisweilen behauptet wurde, entspricht nicht den Tatsachen: liess es sich doch gar nicht umgehen, dass in den Orchesterübungen Fragmente aus Wagners Werken aufgelegt und studiert wurden. Gehindert hat Joachim auch keinen seiner Schüler, sich an die “Modernen” anzuschliessen. Die gesamten Hochschüler hingen jedenfalls an ihm wie an einem Vater; dies zeigte sich auch bei jeder Gelegenheit.
Noch leben in unser aller Gedächtnis die imposanten Feierlichkeiten, die anlässlich seines fünfzigjährigen (1889) und sechzigjährigen (1899) Künstlerjubiläums stattgefunden haben, Feiern, die beredtes Zeugnis ablegten von der ungemeinen Verehrung, deren sich der grosse Künstler allgemein erfreute. Er hat übrigens, seitdem die Königliche Hochschule besteht, nie Privatunterricht erteilt, obwohl namentlich die reichen Ausländer ihm gern dafür das denkbar höchste Honorar gezahlt hätten. Vielfach hat er jungen strebsamen unbemittelten Leuten tüchtige Lehrer aus eigener Tasche gehalten, wie er denn überhaupt seine Kunst und auch seine Börse oft und stets gern in den Dienst der Wohltätigkeit gestellt hat.
Unvergessen darf in dieser Hinsicht auch nicht bleiben, was er alles für das Berliner Philharmonische Orchester [9] getan hat, um dessen Weiterbestand in kritischer Zeit zu sichern.
Neben seiner Tätigkeit an der Königlichen Hochschule, wo er auch einen Teil der Orchesterübungen abhielt, wirkte Joachim auch eifrigst in der musikalischen Sektion der Königlichen Akademie der Künste, deren Vice-Präsident er seit einer Reihe von Jahren gewesen ist. Eine Zeitlang veranstaltete die Akademie sogar eigene Konzerte unter Joachims Leitung. Seit etwa 20 Jahren aber hat dieser den ihm aus seiner hannöverschen Zeit liebgewordenen Taktstock nur bei den Festlichkeiten der Akademie und den Aufführungen der Hochschule geführt. Es war sein stiller Kummer, dass selbst in den Reihen seiner wärmsten Anhänger sich Leute befanden, die an sein Direktionstalent nicht recht glauben wollten. [10]
Um so mehr wurde allgemein anerkannt, was Joachim als Quartettspieler in der geistigen Durchdringung der Tonwerke und besonders im seelenvollen Vortrag der langsamen Sätze geleistet hat. Bald nach seiner Übersiedlung nach Berlin gründete er hier ein Streichquartett, das am längsten in der Zusammensetzung Joachim, de Ahna, [11] Wirth und Hausmann bestanden hat und sich die Pflege der klassischen Quartettmusik, besonders der letzten Beethovenschen angedeihen liess. Erst das Joachim-Quartett hat diese rein transcendentale Musik enthaltenden Werke grösseren Kreisen erschlossen, wenn auch schon Laub mit seinem Quartett vorgearbeitet hatte. Während alle sonstigen Quartettvereinigungen in Berlin nicht sonderlich prosperierten, war bei dem Joachim-Quartett die Singakademie bis aufs Podium hinauf stets ganz gefüllt. [12] Es hat auch sonst überall, wohin es gekommen ist, die grösste Anerkennung gefunden; selbst in den letzten Jahren, wo dem greisen Führer die Finger nicht mehr ganz gehorchen wollten, war nur eine Stimme, dass die geistige Auffassung und die Frische des Vortrages nach wie vor einzigartig seinen. Zu bedauern ist nur, dass die Quartette moderner Komponisten von ihm höchst selten aufs Programm gesetzt wurden. Berücksichtigt hat er eigentlich nur Komponisten, die keine Neuerer waren und vor allem von Brahms ihm empfohlen wurden, so z. B. Dvořak, den Prinzen Reuss, Robert Kahn, Ernst von Dohnanyi, doch kamen auch wohl, namentlich in früherer Zeit, Ausnahmen vor. Selbstverständlich stand der Name Brahms sehr oft auf den Programmen. Das Übergewicht dieser Persönlichkeit in Joachims Anschauungen und Handeln war so gross, [13] dass er derüber manchem, auch der klassischen Richtung zugewandten Komponisten nicht die genügende Beachtung schenkte, so z. B. Friedrich Kiel und Heinrich von Herzogenberg, obwohl diese sogar an seiner Seite gewirkt hatten.
Als solist ist der Altmeister, der auf seinen Konzertreisen früher fast überall hingekommen und unsagbar gefeiert worden war, in Berlin in letzter Zeit nur noch selten aufgetreten; er fühlte doch wohl, dass sein Gehör etwas nachgelassen, sein Ton allmählich zu klein geworden war, um in den grossen Sälen dem Orchester gegenüber sich behaupten zu können. Wenn er aber spielte, was er besonders gern in den Konzerten der Meininger Hofkapelle, als diese noch unter Fritz Steinbach stand, tat, so fühlte man ordentlich, wie er innerlich wieder jung wurde. Und wie dankbar erwies sich das Publikum; es konnte nicht oft genug den Altmeister, der bei seinem Erscheinen auf dem Podium schon Huldigungen wie ein gekröntes Haupt empfing, immer wieder von neuem herausrufen, um ihm womöglich noch eine Zugabe abzulocken.
Bereits oben habe ich von dem Komponisten Joachim gesprochen. Ich wollte die chronologische Schilderung seines Lebensganges nicht durch Eingehen auf seine Werke unterbrechen und stelle nun erst zusammen, was er veröffentlicht hat, nämlich zunächst die mit Opuszahl erschienenen Werke und dann die ohne Opuszahl in ihrer ungefähren Zeitfolge.
op. 1. Andantino und Allegro scherzoso für Violine mit Orchester oder Pianoforte. Leipzig, Fr. Kistner
op. 2. Drei Stücke für Violine mit Pianoforte (Romanze, Phantasiestück, Frühlingsphantasie). Leipzig, Breitkopf & Härtel.
op. 3. Konzert (in einem Satze) für Violine mit Orchester oder Pianoforte; ibidem.
op. 4. Ouvertüre zu “Hamlet” für Orchester; ibidem.
op. 5. Drei Stücke für Violine und Pianoforte; ibidem.
op. 9. Hebräische Melodien (nach Eindrücken der Byronschen Gesänge) für Viola mit Pianoforte; ibidem.
op. 10. Variationen über ein eigenes Thema für Viola und Pianoforte; ibidem [c. 1859].
op. 11. Konzert in ungarischer Weise für Violine mit Orchester oder Pianoforte; ibidem.
op. 12. Notturno für Violine mit Orchester oder Pianoforte. Berlin, Simrock.
op. 13. Ouvertüre für grosses Orchester (dem Andenken des Dichters Heinrich v. Kleist), g-moll; ibidem.
op. 14. Szene der Marfa aus Schillers unvollendetem Drama “Demetrius” für Mezzosopran und Orchester oder Pianoforte; ibidem.
Rhapsodie Hongroise (zusammen mit Franz Liszt). Leipzig, J. Schuberth & Co.
Romanze für Violine mit Pianoforte. Leipzig, C. F. Kahnt [c. 1855].
Song. Rain, rain and sun in: Album of Settings of Tennyson.
“Ich hab’ im Traum geweinet.” Für eine Singstimme mit Pianoforte. Cassel, Luckardt [c.1870], jetzt Berlin, Raabe & Plothow.
Zwei Märsche für grosses Orchester (C-dur und D-dur). Berlin, Simrock [c. 1870].
Variationen e-moll für Violine mit Orchester oder Pianoforte. Berlin, Bote & Bock.
Konzert G-dur für Violine mit Orchester oder Pianoforte (in Hannover zu Anfang der 60er Jahre entstanden, aber 20 Jahre später umgearbeitet veröffentlicht). Berlin, Bote & Bock.
Ouverture [14] zu einem Gozzischen Lustspiel für grosses Orchester. Berlin, Simrock.
Violinschule (zusammen mit Andreas Moser), drei Bände; ibidem; 1905-07 (eigene Kompositionen Joachims im zweiten Bande).
Für ein so langes Leben sind das nicht eben viel Kompositionen. Weit grösser dürfte die Zahl der ungedruckten sein, die Joachim aus Resignation [15] in seinem Pulte zurückbehalten hat. Was er aber veröffentlicht hat (wunderbarerweise kein Streichquartett), ist fast durchweg wertvoll, zeugt von feinem, vornehmem Geschmack und ausgezeichneter Satzkenntnis. Schumannscher Einfluss ist darin entschieden mehr wahrzunehmen als Mendelssohnscher. Die drei Violinkonzerte, von denen das Brahms gewidmete ungarische bedeutend genannt werden muss und manches Eigenartige, besonders in der grossen Kadenz durch den Zutritt einzelner Orchesterinstrumente zu der Solostimme, enthält, sind durchweg in symphonischem Stil gehalten. Wenn man diesem ungarischen Konzert und dem in G-dur, dessen c-moll-Mittelsatz der Widmung an das Andenken an Giesla Grimm geb. von Arnim Rechnung trägt, verhältnismässig viel zu selten in den Konzertsälen begegnet, so liegt dies an den ausserordentlichen Anforderungen, die darin nicht bloss an den Solisten in jeder Hinsicht gestellt sind. Viel gespielt sind die geradezu klassisch zu nennenden Variationen, die übrigens Pablo de Sarasate gewidmet sind. Die zwei Werke, die Joachim für Bratsche komponiert hat (op. 9 und 10), stammen aus einer Zeit, wo man an eine Heranziehung dieses Instruments für Solozwecke noch höchst selten dachte; Joachim hat nämlich für die Bratsche eine gewisse Vorliebe gehabt und bis in die letzte Zeit gelegentlich in Konzerten sie als soloinstrument benutzt. Die Orchesterkompositionen Joachims stammen wohl ausschliesslich noch aus seiner hannöverschen Zeit. Auffällig ist die geringe Zahl seiner Vokalkompositionen, zumal er, wie wir noch sehen werden, mit einer Sängerin verheiratet war.
Zu den Kompositionen kommen noch eine kleine Anzahl von Bearbeitungen, von denen einige sich grosse Beliebtheit erfreuen. Es sind dies:
Franz Schubert, Grosses Duo op. 140. Für Orchester bearbeitet. Berlin, N. Simrock.
Brahms, Ungarische Tänze für Violine und Pianofortebearbeitet. 4 Hefte. Gleichfalls bei Simrock.
Beethoven. Drei Kadenzen zu Beethovens Violinkonzert op. 61, in zwei verschiedenen Ausgaben. Wien, Haslinger und Berlin, Schlesinger.
Rob. Schumann, op. 85, No. 12. Abendlied für Violine mit Orchester oder Pianoforte. Leipzig, J. Schuberth & Co.
Brahms. Kadenz zum Violinkonzert op. 77 von Brahms. Berlin, Simrock.
Im Gegensatz zu den anderen Geigern ist Joachim, obwohl er sich dadurch einen grossen Geldgewinn hätte verschaffen können (auch hierbei zeigte es sich wieder, dass er kein Geschäftsmann war), als Herausgeber klassischer Werke verhältnismässig nur wenig tätig gewesen. Wenn ich nicht irre, hat er sich als Herausgeber nur auf folgenden Werken genannt:
Archangelo Corelli, Werke. London, Augener (in Chrysanders Denkmälern).
Mendelssohn, Violinkonzert, Streichquartett, Quintette und Oktett, Klaviertrios. Berlin, Simrock.
Beethoven, Violinsonaten und Streichquartette. Leipzig, C. F. Peters.
Endlich hat er, gewissermassen als Vermächtnis an die Geiger, in dem dritten Bande der “Violinschule” von Andreas Moser, die auch seinen Namen mitträgt, die bedeutendsten klassischen Violinwerke, wie er sie vorzutragen pflegte, d. h. mit seiner Phrasierung, seinen Bogenstrichen, seinem Fingersatz und vor allem seinen Kadenzen veröffentlicht. Man vergleiche nur einmal damit ähnliche Ausgaben anderer Geiger, um zu erkennen, wie pietätvoll diese Joachimsche und wie nützlich sie für die Geiger ist.
Gedenken wir endlich nach dem Künstler auch der Freundschafts- und Familienverhältnisse Joachims, so hat ein grosser Kreis in him sein Oberhaupt verloren. Freilich hat sich die Schar der Gelehrten, Maler, Bildhauer, Musiker und sonstigen Persönlichkeiten, die den Künstler als Freund und Menschen über alles geliebt haben, durch den Tod schon gelichtet; so waren ihm z. B. Hellmuth von Moltke, Robert von Keudell, Carlyle, Tennyson, Hermann von Helmholtz und Herman Grimm nicht zu vergessen, Bettina von Arnim und Frau Enole Mendelssohn geb. Biarnez vorangegangen. Aus der reichen Korrespondenz, die Joachim namentlich mit zahllosen Künstlern geführt hat, wird hoffentlich noch mehr veröffentlicht werden als der Briefwechsel mit Brahms, den Andreas Moser bald im Auftrage der Deutschen Brahmsgesellschaft herausgeben wird.
Im Jahre 1863 verheiratete sich Joachim mit einer ihm kongenialen Künstlerin, der berühmten Altistin Amalie Schneeweiss (Künstlername Weiss), doch musste sich das Ehepaar nach neunzehnjährigem Zusammenleben leider trennen. Drei Söhne und dre Töchter sind dieser Ehe entsprossen, aber nur die älteste Tochter ist zeitweise dem Berufe der Eltern gefolgt. [16] Als Familienvater soll Joachim das Ideal eines treu sorgenden, unermüdlich auf das Wohl und Gedeihen seiner Kinder bedachten Vaters gewesen sein.
Wer ihm nahe gekommen ist, dem erschien er als Mensch ebenso gross wie als Künstler: er war eine “anima candida”. Sein Name wird unvergessen bleiben.
[1] Vgl. das ausgezeichnete Lebensbild Joachims von Andreas Moser (Berlin 1896).
[2] Am 16. Mai 1904 spielte Joachim bei dem grossen ihm zu Ehren anlässlich seines 60jährigen Auftretens in London veranstalteten Konzerte gleichfalls das Beethovensche Konzert und dirigierte seine Ouvertüre zu “König Heinrich IV”, — Am 8. März 1877 war er von der Cambridge Universität zum “Doctor of Music” ernannt worden, eine Auszeichnung, auf die er besonders stolz sein konnte.
[3] Vgl. Max Kalbeck, Joh. Brahms I, 96.
[4] Gemeint ist damit wohl der hannoversche Intendant Graf Platen. [Or, more probably, Heinrich Marschner. — RWE]
[5] Vgl. Eduard Reuss, Franz Liszt, ein Lebensbild, S. 300 ff. und Kalbeck, Joh. Brahms I, S. 419 ff. — Rich. Wagner sagt in den “Aufklärungen über das Judentum in der Musik” (Schriften, 3. Aufl., Bd. 8, 245): “Mit dem Abfalle eines bisher warm ergebenen Freundes, eines grossen Violinvirtuosen, trat jene wütende Agitation gegen den nach allen Seiten hin grossmütig unbesorgten Franz Liszt ein…”
[6] Rich. Wagner sagt in seiner Schrift “Über das Dirigieren” (Schriften, 3. Aufl. Bd. 8, S. 336) “Eine solche Schule ohne Herrn Joachim zu begründen, wo dieser zu gewinnen war, hätte jedenfalls als bedenklicher Fehler erscheinen müssen. Was mich für diesen hoffnungsvoll einnimmt, ist, dass nach allem, was ich über sein Spiel erfahren habe, dieser Virtuos den Vortrag kennt und selbst ausübt, welchen ich für unsere grosse Musik fordere; somit dient er mir neben Liszt und den zu seiner Schule Gehörigen als einziger sonst mir bekannt gewordener Musiker, auf welchen ich für meine obigen Behauptungen als Beweis und Beispiel hinweisen kann. Es ist hierbei gleichgiltig, ob es Herrn Joachim … verdriesslich ist, in diesen Zussammenhang gestellt zu werden … Dünkt es Herrn Joachim nützlich, vorzugeben, er habe seinen Vortrag im Umgange mit Herrn Hiller oder R. Schumann so schön ausgebildet, so kann dies auf sich beruhen, vorausgesetzt, dass er nur immer so spielt, dass man daraus den guten Erfolg eines mehrjährigen vertrauten Umganges mit Liszt erkennt.”
[7] Trotzdem wird sich jetzt eine Reorganisation der Hochschule, vor allem die Abschaffung des mehrköpfigen Direktoriums wohl als notwendig herausstellen; die jetzige Form des Direktoriums war gewählt worden, da Joachim, der seit 1888 zwar den Titel eines Direktors führte, eigentlich aber nur Vorsteher der Instrumentalklasse war, ein sechsmonatiger Urlaub im Jahre zu Konzertreisen zugestanden war. Die Schaffung eines Verwaltungsdirektors wird sich jetzt wohl als notwending ergeben. In den letzten Jahren hat man mehr oder minder öffentlich bereits Nachfolger für Joachim genannt. Unter allen diesen Persönlichkeiten dürfte als “Direktor” Fritz Steinbach sicherlich die geeignetste sein, doch wird er kaum Neigung haben, seine glänzende Kölner Stellung aufzugeben. Ein offenes Geheimnis ist es, dass Joachim den Wunsch gehabt hat, noch bei seinen Lebzeiten seine Geigenlehrstelle an der Hochschule Henri Marteau zu übertragen, dass dieser Künstler aber abgelehnt hat. Einer von den wenigen Schülern Joachims, die ihm als Geiger wirklich nahe gekommen sind, ist der junge Karl Klingler. Karl Halir galt lange dafür. Hoffentlich beachtet man bei der Wahl, dass ein vollendeter Geiger nicht immer auch ein vortrefflicher Lehrer ist. Dass in den letzten Jahren die “Hochschule” eine führende Stellung unter den ähnlichen Instituten eingenommen habe, werden wohl selbst ihre eifrigsten Anhänger nicht behaupten. Inzucht rächt sich immer. Das Lehrermaterial weist zu wenig markante Persönlichkeiten auf. Auch die vielfach beklagte, freilich nicht zugegebene Bevorzugung der Ausländer müsste ein Ende nehmen. Klagen (ob immer berechtigt, lasse ich dahin gestellt) über die Art der Aufnahmeprüfungen und besonders über die Bevorzugung von Schülern bestimmter Lehrer, namentlich in der Opernschule, hat man auch recht oft gehört.
[8] Bei Konzerten, in denen hochmoderne Werke aufgeführt wurden, war Joachim höchst selten zu sehen; noch weniger bei Opernpremieren.
[9] Vgl. meine “Chronik des Berliner Philharmonischen Orchesters”.
[10] Schon R. Wagner schrieb am Schlusse seiner Schrift “Über das Dirigieren”: “Der Taktstock soll ihm nicht recht pariert haben.” An heftigen Angriffen gegen den Dirigenten Joachim haben es Berliner Rezensenten besonders in den achtziger Jahren des verflossenen Jahrhunderts nicht fehlen lassen.
[11] An de Ahnas Stelle, der die drei ersten Jahre Bratsche gespielt hatte, trat nach dessen Tode (1892) zunächst Johann Kruse, der aber 1897 infolge seiner Übersiedelung nach England durch Karl Halir ersetzt wurde; dieser behielt daneben die Führung seines eigenen Streichquartetts weiter.
[12] Freilich war der Besuch des Joachim-Quartetts für manchen nur Modesache; verirrte sich doch kaum einmal einer der Stammgäste Joachims z. B. in eine Soirée des so vorzüglichen Brüsseler Streichquartetts. Man ging weniger hin, um ein Quartett als um den Künstler zu hören. — Ein schönes Bild einer Joachimschen Quartettsoirée malte Menzel. Dieser pflegte bis zu seinem Tode auf einer Seitenbank der Singakademie, so oft Joachim-Quartett war, zu sitzen.
[13] Brahms liebte bekanntlich Bizets “Carmen” ungemein. Infolgedessen soll dieses Werk die einzige moderne Oper gewesen sein, die bei Joachim und daher auch bei dem ganzen Lehrerpersonal der Königlichen Hochschule Gnade gefunden hat! Solche Geschichten wurden gern kolportiert.
[14] In Grove’s Dictionary of Music (new edition) ist diese Ouvertüre als op. 8 bezeichnet; als op. 6 ist dort die unveröffentlichte Ouvertüre zu H. Grimms “Demetrius”, als op. 7 die gleichfalls unveröffentlichte Ouvertüre zu “Heinrich IV.” angegeben.
[15] Wagner sagt am Schlusse seiner Schrift über das Dirigieren, meines Erachtens mit Unrecht: “Auch das Komponieren scheint ihn mehr erbittert als andere erfreut zu haben.”
[16] Es ist dies Marie Joachim, eine hervorragende dramatische Sängerin, die zuerst in Elberfeld, dann in Dessau und Weimar, zuletzt am Casseler Hoftheater gewirkt hat und mit besonderem Glück als “Fidelio” und “Walküre” aufgetreten ist. Die zweiter Tochter, Josefa, war vor ihrer Verheiratung Schauspielerin.