Hans Küntzel, Brahms in Göttingen, Göttingen: Edition Herodot, 1985, pp. 96-98.


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Agathe von Siebold: Göttingen, Summer of 1857

(from Allerlei aus meinem Leben)

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Agathe von Siebold

(*1835 — †1909)

 Screen Shot 2015-05-31 at 10.20.40 PMin wunderschönes Jahr war dann für mich das Jahr 1857, wo im Sommersemester Joseph Joachim sich Studierens halber in Göttingen aufhielt. Gekannt hatte ich den großen Künstler schon früher, aber näher bekannt und befreundet wurden wir erst durch meinen Freund und Lehrer Julius Otto Grimm, den mit Joachim eine enge Freundschaft verband. Es war ein ganz herrlicher Sommer, den ich da verlebte. Täglich die herrlichste Musik oder schöne Ausflüge in die Wälder. Joachim hatte auch verschiedene Schüler für die Zeit seines Göttinger Aufenthaltes nach sich gezogen, die des Meisters Unterricht hier genießen wollten: Adolf Bargheer, nachmals Musikdirektor in Basel, Friedemann Bach, ein Nachkomme des großen Sebastian, Herner, der erst Orchestermitglied in Hannover, dann Musikdirektor und Kapellmeister dort wurde. Dieser Herner war ein äußerst begabter Mensch, ein musikalisches Genie. Fast auf allen Instrumenten vermochte er zu spielen, wenn auch die Geige sein Hauptinstrument war. Auf dem Cello war er sehr tüchtig, und dieses Instrument spielte er auch in den häufig stattfindenden Kammermusik-Zusammenkünften, wo Joachim selbstverständlich an der ersten Geige saß, Bach an der zweiten, während Adolf Bargheer Bratsche spielte. Es gesellte sich dann später noch Carl Bargheer, der ältere Bruder von Adolf hinzu, Geiger und Kapellmeister in Detmold. Gott, war das schön! Ich lebte wie in einem Meer von Glück und Entzücken. Immer, alle Tage, die wunderbare Musik und das fröhliche Zusammensein im Grimmschen, in unserem, im Dirichletschen Hause. Auch ich fand Beachtung mit meinem Gesang und Joachims damalige Lieblingsstücke, den Liederkreis an die ferne Geliebte von Beethoven, und die wunderbar schönen schottischen Lieder mit Cello und Geige und Klavierbegleitung von Beethoven sangen wir wochenlang alle und alle Tage. Als mein Lehrer J. O. Grimm einmal ein paar Wochen verreisen mußte, da bat er Joachim, mit mir indessen Musik zu treiben, und da kam der große Künstler fast alle Tage und ließ mich seine und meine Lieblingslieder singen. Auch tat er mir einmal die Ehre an und spielte die G-dur Geigensonate von Mozart mit mir und war dabei so schön geduldig, wenn ich in meiner Weise stümperte oder Taktfehler in der letzten Variation machte. Dann hielt er nachher wohl seine Hand geöffnet hin und sagte: “Ich bitte mir von Ihnen so und so viel Achtel (oder Viertel oder Sechzehntel) aus, um die Sie mich betrogen haben.” Meine Stimme hatte er gern und verglich den klaren, hohen Sopran wohl mit einer Amati-Geige. Ich erinnere mich noch ganz genau des Abends, wo ich ihm zuerst, und was ich ihm vorsang. Das war bei Dirichlets, der Schwester von Felix Mendelssohn Bartholdy. Frau Rebekka hatte mir aus Berlin von Frau Fanny Mendelssohn eine Arie von dem alten italienischen Meister Porpora mitgebracht, die Joachim nicht kannte. Dieselbe hatte ich bei Grimm einstudiert und trug sie nun vor, und außerdem eine Arie von Händel aus dem Josua: “O, hätt’ ich Jubals Harf etc.” Ich glaube, ich zog mich damals ganz anständig aus der Affäre, denn Joachim war sehr freundlich, und von der Zeit an durfte ich immer mit musizieren. Dann erinnere ich mich auch noch meines Geburtstages, des 5. Juli, wo ich 22 Jahr alt wurde. Grimm gab an dem Tage, ein Sonntag war’s, eine seiner Matinéen im Ritmüllerschen Saal. Joachim spielte, und ich sang die Haydn’sche Schöpfungsarie “Nun beut die Flur.” Dies Mal machte ich es wirklich gut, denn sowohl Joachim wie auch Julius Hey, der nachherige Gesangsprofessor, sagten mir viel Erfreuliches.

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Wunderherrlich, voll Schönheit und Poesie, waren auch die gemeinsame Ausflüge. Oft lagen wir im Wald oder am Waldrand im Schatten und lasen uns schöne Sachen vor: z.B. Brentanosche Novellen “Die mehreren Wehmüller,” Indische Sagen, übersetzt von Holzmann u.s.w., und die Romantik dieser Werke paßte so ganz und gar, so harmonisch zu der ganze Poesie unseres Daseins. Es war eine so herrliche und reiche Zeit, wie ich sie vorher nie gekostet hatte, und tief ist sie in mein Gedächtnis eingegeraben. Auch sie mußte ein Ende nehmen. Ich mußte mit der Mutter auf Reisen gehen. So schön die Aussicht gewesen wäre, ins Fichtelgebirge, dann nach München und nach Berchtesgaden zu gehen, jetzt freute ich mich kein bißchen darauf, reiste sogar sehr ungern ab, denn Joachim und die anderen lieben Musikanten blieben noch in Göttingen, und ich mußte scheiden.