Signale für die Musikalische Welt, Vol. 65, No. 59 (October 23, 1907), pp. 1079-1082.



Written in the months following Joachim’s death, this article by August Spanuth in Signale für die Musikalische Welt is unusual for being, not a eulogy, but a critical look at Joachim’s legacy as an opponent of the “progressive” music of Wagner and Liszt.



Joseph Joachim ein Phänomen.

            Möge die Ueberschrift den Leser nicht irre führen. Noch ein Loblied auf Joachim das Wunderkind, den Geigerkönig, den Quartettspieler, oder den “vornehmen Künstler” anzustimmen, wird hier nicht beabsichtigt. Haben doch die Nekrologe der Eulogien genug gebracht. Der Tribut der Pietät ist dem toten Künstler vollauf bezahlt worden, und es wird nun allgemach Zeit, sich über die Stellung klar zu werden, die Joachim dauernd in der Musikgeschichte einnehmen wird. War er ein Phänomen? Ohne Frage, aber vielleicht nicht in dem Sinne, in dem es diejenigen meinen, die sich immer nur an seinem Violinspiel entzückt haben. Die Nachwelt aber, der nun doch einmal die Entscheidung zufällt, wird das eigentlich Phänomenale seiner Erscheinung in der Trutzstellung erblicken, die Joachim fünfzig Jahre lang der modernen Musik gegenüber eingenommen hat. Von solchen, die ihn noch in seiner Blütezeit gehört haben, mögen manche dagegen streiten, mögen behaupten, seine Vortragskunst sei das Phänomen gewesen, das die Welt in ihm zu bewundern gehabt. Aber sie vergessen, daß menschliche Erinnerung ein recht unsicherer Behälter ist, der den Inhalt selbst gegen unseren bewußten Willen beständig durchsickern läßt; und so sehr sich auch ihr Gefühl dagegen sträuben mag, sie werden das Urteil über Joachim dennoch der Nachwelt überlassen müssen, die — wie wir wissen — dem Mimen keine Kränze flicht. So groß auch seine Vortragskunst gewesen sein mag, sie muß doch in absehbarer Zeit zu einem ziemlich wesenlosen ästhetischen Begriff werden. Ja, es ist sogar vorauszusehen, daß sich spätere Generationen von Joachims Spiel noch viel weniger ein Bild werden machen können, als wir es uns vom Spiele Spohrs oder Paganinis konstruieren. Joachim hat eben keine solchen Kompositionen hintergelassen, aus denen man sich die Eigenart seines Vortrags nachträglich in der Phantasie rekonstruieren könnte. Trotz aller Schüler und aller Tradition muß doch der Zauber seines Spiels schließlich zur Mythe werden, während die Tatsache seines fünfzigjährigen Widerstandes gegen den musikalischen Fortschritt — oder was die Welt zur Zeit dafür hält — als Phänomen in die Musikgeschichte übergehen wird.

An und für sich braucht zwar ein solch’ langer und hartnäckiger Widerstand nichts Phänomenales an sich zu haben. Es gibt genug Gründe für den guten Musiker, das Neue abzulehnen; und wenn er das Neue nicht ohne weiteres, bloß weil es neu ist, für besser hält als das Alte, verrät er eher Besonnenheit, als Gedankenträgheit. Solche Stellungnahme liegt sogar dem Normalen näher, als dem Phänomenalen. Außer der Temperamentanlage ist dann auch das Alter zu berücksichtigen, insofern der normale Mensch mit zunehmendem Alter die Anpassungselastizität für neue Formen und Erscheinungen verliert. Sind doch nur wenige Künstler nach ihrem fünfzigsten Lebensjahre noch im Stande, neuen Ideen mit voller Ehrlichkeit zuzujubeln. Endlich kommt es auch darauf an, wie man mit dem Neuen bekannt gemacht wird, ob unter günstigen oder ungünstigen Umständen. Bei Joachim lagen nun aber die Verhältnisse so günstig wie möglich, und zudem wurde er bereits als junger Mann mit dem Geist der Neuerung in der Musik bekannt. Kein Geringerer als Liszt war ihm Dolmetscher dieses neuen Geistes gewesen, und der Jüngling Joachim war dem Ruf des damaligen Erz-Revolutionärs nach Weimar nicht ungern gefolgt. Auch geriet Joachim, obschon er mit dem Honigseim Mendelssohns gesättigt worden war, gerade wie alle anderen jungen Musiker jenes Zirkels vollständig unter den Zauberbann Liszts. Als der Jünger “seinem Meister” seine Hamlet-Ouvertüre überreicht, spricht er in schwungvollen Worten die Hoffnung aus, daß aus der Ouvertüre hervorgehen möge, wie Liszts Geist den Komponisten bei der Arbeit umschwebt habe. Aber dann kam das intime Zusammensein mit dem jungen Brahms: das Resultat war ein allmähliches Erkalten seiner Gefühle für Liszt, und endlich das bekannte schroffe Lossagen von dem Vorkämpfer des Neuen. Aus dem kaum gewonnenen sechsundzwanzigjährigen Paulus wurde wieder ein Saulus. Recht anschaulich läßt sich der Klimax und Antiklimax von Joachims Verhältnis zu Liszt aus den Ueberschriften von acht Briefen nachweisen, die Joachim vom Jahre 1852 bis 1856 an Liszt geschrieben hat. Zuerst heißt’s “Innig verehrter Herr Doctor”, dann “Verehrter teurer Meister”, später “Lieber, verehrter Freund”, und dann, als Meister und Jünger auf den Duzfuß gekommen, “Lieber Liszt”. Dabei bleibt’s ein paar Male. Dann kündigt Joachim dem “Verehrten Liszt” Schumanns Tod an, und bald darauf bleibt bei der bekannten geharnischten Absage die Anrede überhaupt fort.

Joachim hatte also zur Zeit seiner größten Empfänglichkeit und unter den allergünstigsten Auspizien die Bekanntschaft mit der neuen Art der Musik gemacht, brach aber nach einer kurzen Periode der Begeisterung den Stab über sie. Das war im Jahre 1857 geschehen, und fünfzig Jahre später stand Joachim noch genau auf demselben Standpunkt. Die Musik selbst dagegen war innerhalb dieses halben Jahrhunderts schon wieder eine andere geworden, die Fortschrittler von damals waren überholt worden. Steht doch heute Wagner bereits im Begriff, als Klassiker angesehen zu werden, während Liszt durch seine Nachfolger immer mehr in’s Hintertreffen gedrängt wird. Die gesamte musikalische Welt hat seit jener fernen Zeit viel durchgemacht, nur Joachim ist bis zu seinem Lebensende derselbe geblieben. Während Richard Wagner sich die ganze zivilisierte Welt eroberte und Deutschlands Abgott wurde, blieb Joachim nicht nur abseits stehen, sondern warf auch bei jeder Gelegenheit das erhebliche Gewicht seiner Persönlichkeit und seiner Stellung gegen Wagner in die Wagschale.

Nun scheint man sich aber doch darüber einig zu sein, daß Joachim den größten aller Komponisten, Beethoven, gründlicher verstand und schöner auszulegen wußte, als die besten seiner Kollegen. Dierser selbe Beethoven wird aber von den Fortschrittlichen als ihr legitimer Vorfahr angesehen. Da drängt sich doch die Frage auf, ob Joachim, der Beethoven so tief verstand, recht hatte, wenn er die Neuen ablehnte, oder ob er sich, trotzdem er so Beethovenkundig war, in der Beurteilung derer irrte, die auf Beethovens Schultern zu stehen glauben. Es wird wohl niemand leugnen wollen, daß sich auch jene beiden großen Vorkämpfer des musikalischen Fortschritts, Wagner und Liszt, gar nicht übel auf Beethoven verstanden; Wagner wird wohl der Neunten und Liszt den Sonaten nicht mehr schuldig geblieben sein, als Joachim den Quartetten. Es wäre nun zwar ganz poetisch, sich darüber zu freuen, daß jene Antipoden in dem größten Komponisten ihren Berührungspunkt fanden; aber viel weiter hilft uns der Gedanke nicht. Faßten sie wohl gar Beethoven verschieden auf? Sicherlich. Die beiden älteren Meister — die anachronistischer Weise die Neuerer waren — trachteten bei der Beethoven-Interpretation vor allem nach charakteristischem Ausdruck des Ideenganges, während der jüngere die Schönheit des Ausdrucks als oberstes Gebot anzuerkennen schien. Zu streiten darüber, wer von beiden recht hatte, wäre unfruchtbar, da die einzig zulässige Autorität, Beethoven selbst, nicht mehr darüber befragt werden kann. Das Publikum aber had je nachdem die eine Art der Auffassung so lebhaft bejubelt wie die andere.

Aber wenn wir nun auch zwei verschiedenen Arten der Beethoven-Interpretation die Existenzberechtigung zubilligen müssen — um sie in der gebräuchlichen Phraseologie zu charakterisieren: der klassisch-objektiven und der modern-subjektiven —, so wird damit doch noch keine Erklärung für die gänzliche Verschiedenheit der Schlußfolgerungen — hinsichtlich der ferneren Entwickelung der Musik — gegeben, die beide Teile aus Beethoven gezogen haben müssen. Wie war es möglich, daß Liszt und Wagner aus den Werken Beethovens Impulse für ihr eigenes Schaffen erhielten, und daß Joachim aus denselben Werken solche Impulse ganz und gar nicht heraushörte? Trugen Wagner und Liszt etwas in Beethoven hinein, was nicht hineingehörte, oder litt Joachim an einer partiellen Musiktaubheit, vielleicht an einer musikalischen Farbenblindheit? Gegen die letztere Annahme werden sich natürlich die Bewunderer Joachims sträuben, sie sollten aber zugeben, daß Joachims Abneigung gegen die modernen Tonkoloristen einen schon auf solchen Gedanken bringen kann. Will man nun aber Joachim recht geben, dann erklärt man damit indirekt die musikalische Entwicklung der letzten fünfzig Jahre, mit der Ausnahme von Brahms’ Anteil, für einen grandiosen Irrtum. Dann hätten uns Wagner und Liszt wirklich in eine Sackgasse gelockt, dann hätte man der Musik etwas innerlich Unmusikalisches zugemutet, als man sie zum Ausdruck poetischer Ideen, zur gesteigerten Stimmungsmalerei und zu allen möglichen Farbeneffekten benutzte. Neun Zehntel der musikalischen Welt deuten aber durch ihr Verhalten an, daß sie in Wagner und Liszt durchaus keine falschen Propheten zu sehen vermögen, und ein sehr beträchtlicher Prozentsatz sieht sogar dem extravaganten Treiben der Allermodernsten mit Sympathie zu. Das Häuflein derer um Joachim aber, die noch päpstlicher als der Papst sein zu müssen glaubten und daher für die Modernen nur das Hohnlachen der Verachtung hatten: wie wird es jetzt, nach seinem Tode, erst zusammenschmelzen! Es war schon seit langem so klein im Verhältnis zu der grossen Gemeinde der Bewunderer seines Spiels.

Freilich ist es nicht wahr, daß die Majorität immer recht hat, und des Argumentes wegen sei einmal der Fall gesetzt, daß Joachim die Zukunft der Musik besser verstanden habe als irgend ein anderer, daß Wagner und Liszt die Musik zu Uebergriffen auf Ausdrucksgebiete verführten, die ihr für allezeit hätten verschlossen bleiben sollen. Was könnte nun geschehen, nachdem sich die Welt an diese vermeintlichen Uebergriffe gewöhnt hat? Sollte sich die Musik während der letzten fünfzig Jahre wirklich in einer schiefen Richtung entwickelt haben: wird man deshalb diese Entwickelung und ihre Konsequenzen wie mit einem nassen Schwamm auswischen können? Nicht einmal eine langsame Zurückbildung würde sich bewerkstelligen lassen, denn unser Ohr ist ein merkwürdiges Ding, das sich ungemein schnell, trotz anfänglichen Erschreckens, an neue, überraschende Klänge gewöhnt, einem Rückbildungsprozeß aber gar keine natürliche Anlage entgegenbringt. Also selbst wenn die Majorität auch in diesem Falle nicht recht haben sollte — die Entscheidung fällt doch durch sie, denn ihr ist die Macht dazu gegeben. —

Fünfzig Jahre sind nicht nur im Leben eines Menschen, sondern auch in der Entwickelung der Musik eine gewaltig lange Zeit. Aus Eigensinn, aus Laune oder auch aus persönlicher Abneigung verharrt nur selten ein Mensch so lange bei einer Anschauung, die sich in Widerspruch setzt zu neun Zehnteln der übrigen Welt. Man muß also schon annehmen, daß Joachim an seiner Trutzstellung aus innerster Ueberzeugung festhielt. Daß aber die fernere Entwickelung der Musik ihm nachträglich noch recht geben wird, könnte nur ein sehr sonderbarer Schwärmer annehmen. Die Musikgeschichte wird daher als das eigentlich Phänomenale seiner Erscheinung die Tatsache registrieren, daß die musikalische Welt nicht aufhörte, in him einen großen Vortragskünstler zu verehren, trotzdem seine meisten zuhörer längst in einer ganz anderen musikalischen Richtung trieben, als er selbst.

August Spanuth.