jj-initials1-e1395761217629


Ferdinand Peter Graf Laurencin D’Armond (*1819 — †1890), “Josef Joachim und seine Stellung zum Musikleben der Gegenwart,” Anregungen für Kunst, Leben und Wissenschaft (Franz Brendel and Richard Pohl, eds.), vol. 6 (1861), Leipzig: Heinrich Matthes, 1861, pp. 167-172.


Josef Joachim und seine Stellung zum Musikleben der Gegenwart.

            Die Virtuosität, als vereinzelte Erscheinung tonkünstlerischer Thätigkeit, hat vollständig ausgelebt. Die einst so mächtige Zugkraft der musikalischen Spieltechnik als solcher, ist in einem weit höheren Sein des Darstellens aufgegangen. Dies höhere heißt nach einer Seite Poesie der Technik; nach der anderen ist es der Charakter, der ganze Mensch. Diesem letzteren ist, nach dem Willen unserer und aller kommenden Zeit, die Aufgabe einer durchgreifenden Lebensbethätigung in Sachen der Kunst gestellt. Der Begriff “Kunst” ist hier nach allen seinen Beziehungen aufzufassen. Das eben erwähnte, nach zwei Hauptrichtungen auseinandergehende Ziel aller künstlerischer Thätigkeit bezieht sich demnach sowol auf deren schöpferische, als auf die bereits Geschaffenes darstellende Seite. Es gilt nun, über jene beiden kategorischen Imperative der Zeit an die Kunst und an deren Organe klar zu sehen. Diese Forderungen des Zeitgeistes an Kunst und Künstler scheinen zwar einer oberflächlichen Betrachtung eben so augenfällig, als leicht erfülbar. Doch eben so hart stoßen sich die Dinge, sobald es sich um eine wirkliche Bethätigung dieser Machtspüche des Zeitgeistes an die darstellende Seite der Tonkunst handelt. Man trifft hier auf grobe Mißverständnisse. Diese entspringen aus zwei Quellen. Eine derselben heißt Voreingenommenheit gegen den entschieden auftretenden Zeitwillen. Die andere wäre kurz als Affenliebe für längst eingewurzelte Gepflogenheiten der künstlerischen Anschauungsweise und Praxis zu bezeichnen. Jene verhält sich zu dieser, wie die Folge zum Grunde. Man mag den alten Menschen nicht ausziehen. Er kleidet ja so bequem. Jede Reform liefert reichhaltigen Denkstoff. Die Kunst aber will genossen, sie will Antidosis gegen Langeweile sein. Fort denn mit allen Neugestaltungsversuchen! So lautet beiläufig das allezeit fertige Philosophem der Reactionäre unter den darstellenden Musikern. Die Kritik muß aber solchen Leuten standhaft entgegentreten. Man schelte sie dann doctrinär oder wie sonst beliebig. Sie hat ihrer vom Geiste her überkommenen Sendung zu willfahren, mögen die Dinge von außen her nun wie immer kommen und gehen.

Welchen Sinn hat den nun jene an die Stelle der einseitigen Virtuosität früherer Zeiten in neueren Tagen getretene Forderung an den Tonkünstler, welche in den Worten “Poesie der Technik” ausgesprochen liegt? Sie erledigt sich in dem zur durchgreifenden That gereiften Gedanken der stoffligen wie geistigen Vollherrschaft des darstellenden Künstlers über seine Aufgabe, das Darzustellende. Dies letztere ist einziger Kern und Selbstzweck, alles Andere nur Mittel und Beiwerk. Die Wiedergabe eines musikalischen Kunstwerkes muß — nach neuestem Ermessen — den Eindruck einer freien Schöpfung hervorbringen. Die Kluft zwischen Schaffen und Nachschaffen muß zu Null verschwinden. Dieses hat jenem an Freiheit ganz gleichzukommen. Das Element freier Durchgestaltung schließt selbstverständlich das virtuosenhafte Wesen engeren Sinnes nicht aus, sondern ein. Nur darf letzteres nicht mehr in einseitiger Stellung hervortreten. Es muß sich als ein, in dieser sogenannten Poesie der Technik vollständig Aufgegangenes erweisen. Nur unter dieser Voraussetzung vermag es zu wirken.

Eine zweite, von der eben erwähnten untrennbare Prämisse, ist für den jetzigen Standpunct der reproductive Kunst, wie oben bemerkt, ein hochsittlicher, reinmenschlich beseiteter Charakter. Ohne feste ethische Grundlage ist in der Kunst durchaus nicht mehr fortzukommen. Jede Art von Zugeständnissen an die hörlustige Masse erweist sich als unstichhaltig. Ja, sie hat für den zum Durchbruche gekommenen Zeitgeist sogar etwas entschieden Sündhaftes. Der Künstler hat nur dem im Kunstwerke reifgewordenen Gedanken, sonst aber keinem anderen Herrn zu dienen. Freiheit und Nothwendigkeit müssen hier als ein urbildlich in einander Verwachsenes sich darstellen. Freiheit, und zwar eine völlig unumschränkte, bezieht sich auf das Verhältniß des darstellenden Künstlers zum Publicum. Nothwendig hingegen ist das Grundgesetz jener Stellung, welche der künstlerisch Reproducirende zu dem seiner nachschaffenden Kraft überantworteten Stoffe, zum Kunstwerke nämlich, einzunehmen hat. Was nun das Verhältniß des Virtuosen zu seinem Publicum betrifft, so muß er, wie oben angedeutet, eine völlig ungebundene Stellung zu demselben einnehmen. Er muß es je für das Verständniß seines Standpunctes und seiner Leistungen heranbilden. Infolge dieser wesentlich übergeordneten Stellung des reproductive Künstlers zu seiner Hörerschaft darf denn auch nicht einmal entfernt die Rede sein von Zugeständnissen an die Launen des Publicums. Der Künstler hat nur im Ramen des Kunstwerkes und — eingedenk der engen Verkettung des darzustellenden Wesens mit dem Innersten des Darstellers — auch selbstverständlich in eigener Sache zu wirken. Nimmermehr aber darf er einem ihm von außenher aufgedrängten Wesen dienen. All diesem gegenüber ist das Verhältniß des Künstlers zu seinem Publicum entschieden übergeordneter Art. Nach und nach fügt sich auch die trotz allen scheinbaren Eigensinnes doch gründlich lenksame Masse solchem im Vollblute der Zeit ruhenden Gesetze. Anfangs widerwillig, geht sie die Stufen des Befremdetseins über solch stählerne Kraft des Künstlerwillens hindurch. Sie dringt weiter zur Achtung, endlich ganz unvermerkt sogar zur Liebe für solches Gebahren des Künstlergeistes vor. Ist nun aber einmal dieser Punct gewonnen, dann ist auch der Sieg eines solchen, auf voller Zeithöhe stehenden Künstlers, unumstößliche Thatsache der Geschichte und des Lebens. Wenigen gelingt die Wanderschaft auf so mühsamem Pfade. Einer aus der kleinen Zahl Auserwählter, welche den eben gezeichneten Weg bis jetzt mit vollständigem Siegesglücke gegangen, ist ohne Frage Josef Joachim, der größte Geiger, und gewiß einer der gewiegtesten musikalischen Darsteller der Gegenwart.

Betrachten wir Joachim vor Allem als Spieler! Sehen wir uns diese Künstlererscheinung zuerst ohne Rücksicht auf ihr Programm an! Hier fällt nun eine aus durchgreifender Sachkenntniß bevorgegangene Praxis in allen möglichen Stricharten auf. Joachim beherrscht die Geige bis in die verhülltesten Phasen ihrer Tongebungsfähigkeit. Jede Strichart, gleichviel ob der Geschichte oder dem gegenwärtigen Leben seines Instrumentes angehörig, gelingt diesem Künstler. Ein solches Gelingen ist nicht etwa im Sinne des Zufalls, sondern in jenem vollbewußter Meisterschaft gemeint. Dies gilt sowol von Joachim’s Wiedergabe jeder Strichart als Einzelnheit, wie auch von der diesem Künstler eigenen Gabe einer unmerklichen, und dennoch scharf begrenzten Verschmelzung mehrerer Stricharten in einer fortlaufenden musikalischen Periode. Wer z. B. Tartinis “Teufelssonate” von Joachim spielen gehört, der hat ein Bild von jener seltenen Feinheit und Strenge der Logik, sowie von jener urbildlich poetischen Technik, kraft welcher dieser Künstler die gegensätzlichsten Stricharten, unbeschadet ihrer höchstpersönlichen Geltung, in der Dauer eines Augenblickes mit einander zu einem schlagend wirkungsvollen Bilde zu vermitteln weiß. Ebenso verhält es sich mit der Art der Passagendurchführung, welche diesem Künstlergeiger eigen ist. Jeder dieser einzelnen Züge verwächst in Joachim’s Darstellungsweise mit seinen Vorausgängern und Nachfolgern ebenso innerlich nothwendig, wie mit dem ganzen abzuspiegelnden Kunstwerke. Jede gesonderte Spielwendung bildet bei Joachim’s Vortrage eben so sehr ein geschlossenes Ganze, wie einen zu immer höherer Totalität strebenden Punct. Joachim’s Ton ist von einer Plastik und Fülle, die ihresgleichen schwer finden dürfte. Es liegt auch hierin etwas durch und durch Mannhaftes, Selbstgewisses, in seinem Stoffe charaktervoll Aufgegangenes und Aufgelebtes. Auch hier giebt sich eine Kraft der künstlerischen Ueberzeugung kund, die im Hörer eben auch nur gleichartige, vollauf bestimmte Eindrücke wachzurufen vermag. Was Joachim spielt, ist eben sein innerstes Wissen, Können, Fühlen und Wollen, kurz der ganze Mensch. Das bin Ich, sagt Joachim durch seine Technik. Er kündet aber durch dieselbe auch zugleich das volle Wesen desjenigen Werkes an, was er eben darstellt. Er ist in jedem Zuge Herr seines Stoffes, in welchem er andererseits zugleich aufgeht. Darum glaubt man aber auch seiner Technik bis in deren letzten Nerv hinein. Man macht ein so denkkräftiges und willensfestes Darstellen sich leicht zu eigen, wenn man eben nur denselben Sinn für Wahrheit, dichterische Technik und sittliche Kraft zum Höhen mitbringt, wie Joachim zum Spielen.

Eben dieselbe Durchgeistigung, welche schon Joachim’s Technik kennzeichnet, läßt sein Spiel auch gerecht werden dem Kerne alles Dessen, was er darstellt. Wo er seiner vollends deutschen, gesunden Künstlernatur Gleichartiges vorfindet, da weiß Joachim sich selbst und sein Publicum vom großen Ganzen bis in jeden Einzelnzug des Dargestellten vollständig zu versenken. Da giebt er nicht mehr, nicht weniger, als das Werk mit allen seinen gegenständlichen und höchstpersönlichen Erscheinungsformen. Dieser charakteristische Zug schließt jedoch keineswegs eine lebhafte Mitbetheiligung der Person Joachim’s an seiner Aufgabe aus. Im Gegentheile lebt unser Künstler ganz auf im Glauben an das, aus deutschem Bewußtsein hervorgegangene Werk seiner Darstellung. Es läßt sich daher, wenn Joachim Werke von Bach, Beethoven, Spohr, Mendelssohn und Schumann spielt, mit eben derselben Bestimmtheit sagen: er spiegle sich selbst, wie den seiner Darstellung anvertrauten Tondichter und dessen That, mit urbildlicher Treue wieder. Greift aber Joachim nach solchen Stoffen, welche deutscher Anschauung ferne liegen, wie u. A. nach Tartini, so tritt an seiner Wiedergabe dieses ihm, wie seinem angeflammten Künstlerbewußtsein fremdartigen, ein nach zwei Seiten auseinandergehendes Merkmal der Meisterschaft zu Tage. Nach erster, am meisten auffälliger Richtung, wird das dem deutschen Geiste in seiner ursprünglichen Erscheinung fremdartige, ja widerstrebende Kunstwerk unter dem Schilde der Darstellungsweise Joachim’s zu einem solchen Tongedichte wiedergeboren, dem deutscher Ernst und Adel nicht etwa im Sinne der Verbildung, sondern vielmehr in jenem der Verklärung eingelebt wird. Auf andere Seite bleiben durch die Darstellungsweise dieses Künstlers einem derartigen Werke aus nichtdeutscher Fremde jene Bedingungen vollkommen gewahrt, die es als That eines anders besaiteten Volke- und Künstlergeistes schon von vornherein in sich schließt. Es bleiben daher die dem nichtgermanischen Genius ureigenthümlichen Merkmale, kraft solcher Darstellung, eben so unversehrt wie andererseits der über ihren Inhalt verbreitete Hauch deutscher Art und Weise ihnen das Gepräge einer völlig neuen, und um dieser Neuheit willen ungewöhnlich anregenden Schöpfung aufdrückt.

Joachim, der Componist, zeigt genau dieselben jetzt auseinandersgestzten Eigenschaften. Was er nach dieser Richtung giebt, ist ebenso unveräußerliches Eigenthum seiner selbst, wie des großen Völkerstammes dem dieser Künstler angehört. Deutsche Erfindungs- und Gestaltungskraft ist bis in das letzte Glied hinein der Puls seines schöpferischen Wirkens. Man kann Joachim, den componisten, nicht wohl als Epigonen einer bestimmten deutschen Schöpferkraft bezeichnen. Er ist vielmehr der vollberechtigte Erbe all jener Errungenschaften, welche der deutsche Geist von Bach angefangen bis einschließlich auf Schumann sein eigen nennt. Innerhalb dieser Sphäre wirkt Joachim mit allem oben näher erklärten Rüstzeuge vergeistigter Meisterschaft und würdevoller Charakterstärke. Es waltet hierin mit eben dem Schwunge des Geistes, welcher den auserwählten Fahnenträgern des deutschen Tongeistes vom ersten bis zum anderen der oben genau bezeichneten Enden eigen gewesen. Diese Merkmale stellen denn Joachim ebenso unzweifelhaft als Meister, wie als in seiner Art und Richtung tief durchgebildeten Künstlercharakter hin, dessen Sendung eben so schön im Keime, wie bedeutend in dem Ganzen und allen Einzelnheiten seiner Entwickelung sich ergiebt, und ihm eine bleibende Stelle in der Geschichte wie im Leben der Kunst nach deren ganzem Umfange verbürgt.

Dr. F. P. Laurencin.