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Ernst Rudorff über die Künstlerschaft Liszts und Joachims


Brahms Institut Lübeck: http://www.brahms-institut.de/db_jjb/projekt_joachim_varia.php
Provenienz: Teilnachlass Joseph Joachim / Sammlung Hofmann
Sign: Joa : D2 : 4 Inv. Nr. ABH 6.3.106
(aus seinen Lebenserinnerungen. Nicht gedruckt!)

Abschrift anonym 3 Seiten

Translation below



…Joachim hatte mir gegenüber einmal die Aeusserung getan: “Auch in der Zeit meiner höchsten Schwärmeri für Liszt habe ich ihn niemals so spielen hören, dass nicht im geheimsten Winkel meines Inneren die Stimme der Gewissens Einspruch dagegen erhoben hätte.”

Als ich Joachim später einmal daran erinnerte, behauptete er: “das kann ich nicht gesagt haben, denn ich weiss Z. B. dass Liszt einmal mit Cossmann und mir zusammen das B-dur-Trio von Beethoven so herrlich gespielt hat, wie ich er nur jemals in meinem Leben gehört habe. Freilich, da musizierten wir drei ganz allein miteinander. Sobald nur irgendeine Dame auftauchte war es natuurlich aus mit dem Künstlerischen Ernst, und die Schauspielerei begann.” Trotz dieses seines Einwände blieb für mich die Tatsache bestehen, dass er jene Aeusserung getan hatte, und wann die Ausnahme mit dem B-dur-Trio wirklich stattgefunden hat, woran ich nicht zweifeln darf, so wurde sie ja nur die Regel bestätigen. Gewiss ist er verständlich, dass Liszt mit seinem schlechthin unvergleichlichen Klaviergenie, seinem blitzartig unmittelbaren Erfassen jeder Musik den um viele Jahre juungeren Joachim einstmals ganz und gar sich hätte zu eigen machen können. Aber so nahe sich hier die Talente berührten, so grund-verschieden seien die Charaktere. Es war eine kurze Täuschung, dass beide glaubten, einander von Grund aus anzugehören; die Wege die sie ihrem innersten Wesen nach einschlagen mussten, führten sie diametral auseinander. Liszt von früh auf das Urbild eines Virtusoen im weitesten und verwegensten Sinn des Wortes, suchte und fand bei allem was er leistete, lediglich die Triumphe seines Ichs. Kein Künstlerisches Bedenken hielt ihn in seiner Jugend ab, die Musik des Don Juan zu zerpflücken, um aus den Brocken ein frivoles Effektklavierstück zusammenzubrauen, und wiederum Meyerbeer war ihm für

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solche Zwecke ebenso recht wie Mozart oder Mendelssohns Sommernachtstraum. In Berlin spielte er in einem seiner Konzerte Beethovens Cis-moll-Sonate mit so unerhörten Tempoverzerrungen, dass die Masse zwar unbändig Klatschte, alle musikalischen Leute aber empört waren. Ein paar Tage darauf trug er dieselbe Sonate einem kleinen Kreis von Musikern vor, u-zwar dieses Mal in ganz angemessenem Zeitmass. Als die Zuhörer ihre Verwunderung darüber laut werden liessen, erwiderte er ohne Scheu, dem Publikum gegenüber müsse man andere Saiten aufziehen als den Kunstgenossen, um Eindruck zu erzielen. Seinen Schülern prägte er dann in späterer Zeit die Lehre ein, erstes Gebot beim Öffentlichspielen sei, keinen Augenblick vorübergehen zu lassen, ohne irgendwie das Publikum auf sich aufmerksam zu machen. Mit anderen Worten also: zu verblüffen um jeden Preis ist die Aufgabe des Künstlers, oder auch: der Triumph der Person ist der alleinige Zweck aller Reproduktion. Nun aber vergegenwärtige man sich dem gegenüber Joachim mit all seinem Fühlen, Tun, Streben und Wirken lebenslang, das nur darauf gerichtet war, mit der einen Kraft dem Echten, Bleibenden, wahrhaft Schönen, auch im Kampf mit mächtigsten zu dienen, sener Überzeungung treu zu bleiben, auch im Kampf mit mächtisgsten und gewissenlosesten Elementen, und man wird begreifen, dass dieses Joachim, deslebenslang mit seiner Person hinter der Sache zurück, die ihm heilig war, unmöglich im Bunde mit Liszt bleiben konnte.

Schleiermacher hat bei irgendeiner Gelegenheit den Ausspruch getan: “Grosse Gaben der Geister ohne sittliche Gesinnung sind ohne Wert.” Es liegt mir gewiss fern, die gewinnenden ethischen Züge in Liszts Persönlichkeit, seine Ritterlichkeit, seine unbegrenzte Hilfsbereitschaft jeder Bedurftigkeit gegenüber irgendwie herabsetzen oder verkennen zu wollen, aber darum bleibt es doch leider wahr, dass jenes strenge Wort auf die Künstlerschaft des vielgefeierten Mannes Anwendung findet. Der jugendliche Liszt hat auf seinem Triumpfzug durch die Welt die Heute in einen Rausch taumelhaften Entzückens versetzt wie kaum je ein anderer Sterblicher. Aber bei dem Rausch des Augenblicks hatte er auch sein Bewenden [?]. Erhoben, ergriffen, getröstet, mit Frieden erfüllt, wie es die echte Kunst unserer Meister in un-

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verfälschster Wiedergabe tut, hat er die Menschen nicht. Und wie der Meister, so seine Gefolgschaft. Liszt hat eine Schule der Willkür, der Affektation, des effektvollen Pose hinterlassen, der es leider gelungen ist, Boden im Überfluss zu gewinnen. Das Rüstzeug, dessen man sich hier bedient, um aufzufallen und geistreich zu erscheinen, besteht in unmotivierten Temporückungen, in Übertreibungen der Stärkegrade nach oben und unten hin, Übertreibungen der Kontraste sowohl in dynamischer wie in rhythmischer Beziehung, ungebührlicher Anwendung der Verschiebung und ähnlichen Dingen.

Dass Liszts Vorbild und Unterweisung auf dem Gebiet der rein technischen Seite des Klavierspiels ausserordentlich fördernd sein musste, versteht sich von selbst. Um die Bildung des Anschlags scheint er sich weniger bemüht zu haben.

Liszt hat eine ausserordentliche Menge von Kompositionen niedergeschrieben. Dass es ihm — ganz abgesehen von den Bedenklichkeiten seiner Harmonik und seines Aufbauens — an eigentlicher musikal. Erfindung so gut wie ganz gefehlt hat, wird wohl heute nur von einer kleinen Minderheit bestritten werden. Wirklich erfinderisch dagegen war er auf dem Gebiet der Klavieristischen Wirkungen. Ganz ungetrübte Freude kann man an diesen Zeugnissen seines Genies in allen den Fällen haben, wo er ein fremdes, für andere Mittel erfundenes Stück ohne irgendwelche eigene Zutaten zu einem Klavierstück umschafft. Meisterwerke dieser Art sind namentlich seine Übertragungen Paganini’scher Capricen für das Klavier. Auch eine Reihe Schubert’scher Lieder gehören hier her. Es ist unverkennbar, dass Brahms in seinen Klavierkompositionen rücksichtlich des Klaviersatzes mit grossem Erfolg bei Liszt in die Lehre gegangen ist…”


Joachim once commented to me: “Even in the time of my greatest enthusiasm for Liszt, I never heard him play in such a way that, in the innermost corner of my being, the voice of conscience did not object.”

Later, when I reminded Joachim of this, he claimed: “I can’t have said that, because I know, for example, that Liszt, Cossmann and I played the B flat Major trio of Beethoven as beautifully as I have ever heard it in my life. To be sure, the three of us were making music quite alone. As soon as some woman appeared, it was naturally all over with artistic seriousness, and the theater began.” In spite of this objection, the fact remained for me that he had made that comment, and if the exception with the B flat Major trio had really taken place, which I do not doubt, then it merely served to prove the rule. It is certainly understandable that Liszt, with his incontestably incomparable genius for the piano, with his lightning-quick comprehension of every music, would have completely captivated the many-years-younger Joachim. But as proximate as their talents were, so radically different were their characters. It was a short beguilement, that both believed that they fundamentally belonged to one another; the paths that their innermost natures compelled them to take led them in diametrically opposite directions. Liszt, from early times the epitome of a virtuoso in the broadest and most audacious sense of the word, sought and found in everything that he did merely the triumph of his ego. In his youth, no artistic scruples prevented him from picking to pieces the music of Don Juan, in order to concoct a frivolous effect-piece for piano out of the shards; Meyerbeer served him in turn just as well as Mozart or Mendelssohn’s Midsummer night’s Dream. In a concert in Berlin, he played Beethoven’s C sharp minor sonata with such egregious distortions of tempo, that, while the masses indeed clapped wildly, all musical people were outraged. A few days later, he performed the same sonata for a small circle of musicians — and this time in a completely suitable tempo. When the auditors expressed their astonishment at this, he replied unabashedly that one must string the piano differently for the public than for connoisseurs, in order to make an impression. In later time, he impressed upon his students that the first commandment of playing in public was not to let an instant go by, without somehow calling the audience’s attention to oneself. In other words, the job of the artist is to astound at any cost, or also: the triumph of the person is the sole objective of all reproduction. Picture this now in comparison with Joachim, with all his lifelong feeling, doing, striving and action directed solely, with all his strength, towards remaining true to his conviction of the genuine, enduring, truthfully beautiful — even in conflict with the most powerful and unscrupulous elements — and one will realize that it was impossible for this Joachim, who throughout his life placed his person behind the matter that was holy to him, to remain united with Liszt.

Translation © Robert W. Eshbach, 2013

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