Gedenkworte bei der Gedächtnisfeier der Königl. Akademischen Hochschule für Musik in Berlin für Joseph Joachim Gesprochen von Dr. Max Bruch
Max Bruch and Joseph Joachim
Hochgeehrte Versammlung!
Wenn ich es im Namen des Direktoriums unserer Hochschule unternehme, in dieser Stunde unsers hingeschiedenen hochverehrten Kollegen und teuren Freundes Joseph Joachim liebend zu gedenken, so kann es nicht meine Absicht sein, im engen Rahmen eines kurzen Gedenkwortes ein auch nur einigermaßen vollständiges Bild eines so überaus reichen Daseins Ihnen vorzuführen. Ich muß mich darauf beschränken, einzelne Züge aus dem Leben des verewigten Meisters hervorzuheben und möchte vor allem versuchen, den Empfindungen Ausdruck zu geben, die uns angesichts dieses tiefschmerzlichen Verlustes bewegen.
Als am 15. August d. Js. die Trauerkunde sich verbreitete, Joseph Joachim habe die Augen zum ewigen Schlummer geschlossen, bemächtigte sich eine tiefe und schmerzliche Bewegung aller, die klar erkannten, was er als Künstler und als Mensch der Welt gewesen war. Unzählige Kundgebungen innigster Trauer und herzlichster Sympathie aus allen Ländern bewiesen, wie sehr man den großen Toten überall bewundert und geliebt hatte. Man konnte den Gedanken nicht fassen, daß diese ganze hohe, unvergleichliche Kunst mit dem guten, herrlichen Menschen zugleich zu Grabe getragen werden solle. Wir, die wir ihn täglich unter uns sahen, hatten uns immer wieder von neuem seiner herrlichen Frische und Arbeitskraft gefreut und hieraus die Hoffnung geschöpft, daß er uns noch lange, bis zu den äußersten Grenzen des menschlichen Daseins, erhalten bleiben werde. Es sollte nicht sein — er erlag dem Verhängnis.
Besondere Ursache zu tiefster Trauer hat unsere Hochschule. Fast vier Dezennien hindurch hatte Joachim ihr seine beste Kraft gewidment, er war aufs engste mit ihr verflochten; der Ruhm seines Namens, das Beste seiner harmonischen Persönlichkeit und seines hohen Künstlertums, kamen ihr zugute. Mit unauslöschlicher Dankbarkeit gedenken wir daher heute unseres heimgegangenen Meisters und Freundes und aller unvergeßlichen Verdienste, die er sich im langen Laufe der Jahre um unsere Schule erworben hat. Allzeit trug er sie treu im Herzen. Unablässig war sein Sinnen darauf gerichtet, wie er sie stark und tüchtig erhalten, heben und fördern könnte; freudig und dankbar begrüßte er alles, was in dieser Richtung, seinen Wünschen entsprechend, seitens der Staatsregierung geschah. Seine sorgenden Gedanken gehörten, bis die Macht der Krankheit ihn überwältigte, in unveränderter Lebendigkeit der Hochschule an. Als ich im Juli d. Js. zum letzten Mal an seinem Bette saß und seine Hand lange in der meinigen hielt, da klagte er über die Untätigkeit, zu der ihn sein Zustand verurteilte und sprach dann leise, fast unhörbar, vor sich hin: “Meine armen Schüler!”
Wir alle wissen, wie ernst der geniale Meister es jederzeit mit seinen Pflichten genommen hat. Niemals gab er sich nach, niemals gestattete er sich die geringste Erleichterung, immer war er der erste am Platz, stets ein leuchtendes Vorbild für Lehrer und Schüler. Das Kleinste behandelte er mit derselben Genauigkeit und Gewissenhaftigkeit wie das Größte. Niemals war ihm eine Mühe zu groß, wenn es sich um das Wohl unserer Anstalt handelte. Mit Rührung gedenken wir alle, seine Mitarbeiter, der großen Freundlichkeit seines Wesens, seiner rücksichtsvollen Milde, seines tiefen künstlerischen Ernstes und seiner sich immer gleich bleibenden kollegialischen Gesinnung. Gerechtigkeit und Gewissenhaftigkeit waren die Leitsterne seiner langjährigen gesegneten und ruhmvollen amtlichen Tätigkeit. Gerne erinnern wir uns auch, wie er, in klarer Erkenntnis des Notwendigen und in vollem Einverständnis mit dem Direktorium, aller Stagnation stets vorzubeugen verstand; denn er war jederzeit bemüht, den großen Lehrkörper dieser Anstalt frisch zu erhalten, und ihm neues Blut zuzuführen, indem er den älteren bewährten Lehrern neue, ausgezeichnete jüngere Kräfte zugesellte.
Einen besondern Gegenstand seines liebevollen Nachdenkens und sehr unausgesetzten Fürsorge bildete die Notlage mancher begabten aber unbemittelten Schüler. Er persönlich erwies im geheimen unzähligen Studierenden Gutes und erkannte auch mit lebhaftem Danke an, was in dieser Beziehung von seiten einzelner wohlgesinnter und hochherziger Kunstfreunde geschah; aber im Gespräch mit den Freunden wiederholte er doch immer wieder: Dies alles genüge noch nicht, es bleibe immer noch viel zu tun, denn das Elend sei zu groß.
Die Hingebung und Liebe, welche der Meister seinen Schülern entgegenbrachte, wurde von allen, die seit dem Bestehen unserer Hochschule des Glückes teilhaftig geworden waren, von ihm zu den Höhen der Kunst emporgeleitet zu werden, in überreichem Maße erwidert. Diese Empfindungen unwandelbarer Liebe und tiefer Dankbarkeit fanden einen spontanen, ja überwältigenden Ausdruck, als im Frühjahr 1899 zu Joachims sechzigjährigem Künstlerjubiläum die Scharen seiner ehemaligen Schüler aus der ganzen Welt hierher strömten, um den über alles geliebten Meister noch einmal ihrer unverbrüchlichen Treue und Verehrung zu versichern. Es war eine Huldigung der Geiger, wie man sie noch nie erlebt hatte. Der gesamten, langjährigen und bewundernswerten pädagogischen Tätigkeit Joachims drückte diese herrliche und ganz eigenartige Feier gewissermaßen das Siegel auf. Ernsthaft und beglückt stand der Miester unter seinen begeisterten Jüngern; wir aber durften uns abermals mit Stolz und Freude sagen: Er ist unser!
Ueber seine Kompositionen redete Joachim sehr selten, und wenn er sich einmal gelegentlich gegen einen Freund darüber äußerte, so geschah es mit der ihm eigenen Zurückhaltung und Bescheidenheit. Um so nachdrücklicher möchte ich heute an dieser Stelle darauf hinweisen, daß der Meister uns neben andern höchst schätzbaren Werken eine wahrhaft geniale Schöpfung hinterlassen hat, welche schon für sich allein hinreichen würde, dem großen Geiger auch unter den schaffenden Künstlern des neunzehnten Jahrhunderts einen höchst ehrenvollen Platz für immer zu sichern. Es ist das Violinkonzert in Ungarischer Weise, ein Kunstwerk, welches durch die Größe der Konzeption, die Schönheit der Gedanken, durch Feuer, Kraft und Leidenschaft und die glücklichste Verbindung des nationalen Elements mit dem künstlerischen hervorragt. Die Wiedergabe dieses Konzertes im Sinne Joachims wird immer zu den schönsten, wenn auch schwierigsten Aufgaben gehören, welche bedeutende Geiger sich stellen können. Wir hoffen in diesem Winter durch Aufführung verschiedener Kompositionen des Meisters an dieser durch ihn geweihten Stätte ein reicheres und vollständigeres Bild von seinem Schaffen darbieten zu können, als es heute möglich wäre.
Bewundernswert war die außerordentliche Reife und Sicherheit seines Urteils, ob er nun Freunden als einsichtiger Berater mit produktiver Kritik zur Seite stand, oder in amtlicher Eigenschaft formulierte Gutachten erstattete. Stets waren diese Urteile die reife Frucht langjähriger Erfahrung und ernsthaften, unausgesetzten Nachdenkens über die Geheimnisse der Kunst. Sollten in späteren Zeiten einmal die Archive der Kgl. Akademie der Künste und der Mendelssohn-Stiftung der Forschung zugänglich gemacht werden, so würde die Nachwelt staunen über die Fülle künstlerischer Weisheit die auch in diesen bedeutsamen Lebensäußerungen des herrlichen Mannes überall zutage tritt.
Joachim war groß und einsichtig genug, um wahre schöpferische Kraft immer und überall zu erkennen und zu würdigen — auch da, wo er vielleicht im einzelnen nicht zustimmen konnte oder sogar den eingeschlagenen Weg im ganzen für bedenklich halten mußte. Entschieden ablehnend, und zwar mit Recht, stand er nur solchen Tendenzen gegenüber, die aus völliger Verkennung des Wesens, der Bedeutung und der Ziele der organischen Musik hervorgingen. Er dachte hierüber wie der Meister aller Meister, Goethe, der sich zu seiner Zeit über ähnliche Bestrebungen auf dem Gebiete der bildenden Kunst und der Literatur mit den Worten äußerte:
“Vergebens werden ungebundne Geister
Nach der Vollendung reiner Höhe streben,
Wer Großes will, muß sich zusammenraffen;
In der Beschränkung zeigt sich erst der Meister,
Und das Gesetz nur kann uns Freiheit geben.”
So wirkte Joachim viele Jahre lang unter uns, und so lebt er in seiner herrlichen Eigenart für immer in unserer Erinnerung: Ein großer, überall stets willkommenenr und geliebter Künstler, ein treuer Hüter des Heiligtums, dem er sich schon in früher Jugend angelobt hatte, unserer Kunst; ein ernsthafter, imponierender und liebevoller Lehrer, stets bereit, das wahre Talent in jeder Weise zu fördern; ein Fürst unter Fürsten, aber im Verkehr mit Hohen und Geringen immer derselbe; fest in sich ruhend; aber treu teilnehmend an den Geschicken anderer; zu jedem Opfer für die Kunst stets bereit; ein ehrlicher und durch und durch wahrhaftiger Künstler, der jederzeit den Mut seiner Meinung hatte, unbekümmert um wechselnde Zeitströmungen. Umrauscht von den begeisterten Huldigungen aller Völker, im strahlenden Glanze des Weltruhms, blieb er doch in seinem innersten Wesen wie in seinem äußern Auftreten der schlichteste Mann, der mit unbegrenzter Verehrung zu den Meistern emporblickte, deren größter Interpret er war. Alles in allem eine ebenso liebenswerte wie mächtige Persönlichkeit, deren Zauber sich niemand entziehen konnte, der ihr jemals nahe getreten war.
Wahrlich, was Wilhelm von Humboldt, einst von einem andern Großen sagte, das dürfen wir heute mit vollem Recht auf unsern Joachim anwenden: “Er war der glücklichste Mensch, er hatte früh das Höchste ergriffen und besaß Kraft, es festzuhalten. Es war seine Region geworden; und nicht genug, daß das gewöhnliche Leben ihn darin nicht störte, so führte er aus jenem bessern eine Güte, eine Milde, eine Klarheit und Wärme in dieses hinüber, die unverkennbar ihre Abkunft verrieten.”
Er ruht nun von seiner Arbeit. Sein Geist aber möge stets in uns lebendig sein, damit wir, jeder an seinem Teil, immerdar in seinem Sinne fortwirken und bei allem, was wir tun, nur das Heil der wahren, großen und ewigen Kunst vor Augen haben. Wir alle werden seiner nie vergessen und bis zum letzten Atemzuge in unwandelbarer Liebe und Treue gedenken unseres Meisters und Freundes Joseph Joachim.
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Signale für die Musikalische Welt, Vol. 65, (November 13, 1907), pp. 1172-1175.