Signale für die Musikalische Welt, 21 August, 1907, pp. 865-866 N. B.: Obituaries are posted for historical interest only, and should not be taken as sources of accurate biographical information.


jj-initials1

Joseph Joachim †

(geboren am 28. Juni 1831 in Kittsee in Ungarn, gestorben am 15. August 1907 in Berlin)

Ein Einziger, Unersetzlicher ist mit Joseph Joachim von uns geschieden, nicht bloß der ruhmvollste Name der musikalischen Gegenwart, sondern eine künstlerisch-kulturelle Kraft, deren Gleichen wir nicht haben. Wäre Joachim nur der unübertreffliche Virtuos, nur der Geigerkönig gewesen, so würde es auch hier heißen: Der König ist tot — es lebe der König! — und das um so eher, als auch dieser unermüdliche Künstler sich der Schwäche des Greisenalters naturgemäß nicht entziehen könnte.

Aber Joachim war nicht bloß der Geigerkönig, nicht bloß der souveräne Bildner von Geigergenerationen, er war eine Macht im europäischen Musikleben, war in seiner stillen Größe eine latente Kraft, die das Ethos in der Tonkunst reiner und tiefer zum Ausdruck brachte, als irgend einer der Zeitgenossen, war ein Damm gegen die zersetzenden, ichsüchtigen und veräußerlichenden Strömungen der Modemusik, der nicht verschwinden kann, ohne daß dem europäischen Musikleben ein tiefer Schaden erwächst.

Wie aber konnte ein “ausübender” Tonkünstler solche Macht im Musikleben gewinnen? Nicht allein, weil Joachim eine geniale Natur war und das Darstellen bei ihm zum Schaffen, zur schöpferischen Tätigkeit wurde. Sondern mehr noch vielleicht deswegen, weil Joachim schöpferische Kraft in einer

866

durch und durch innerlichen, lauteren, uneigennützigen, idealistisch gestimmten Persönlichkeit wurzelte. Der idealistische Zug von Joachims Genie, der unwiderstehliche Drang nach dem Echten, Kernigen, Einfachen, das Verschmähen des bloß Glänzenden und Wirkungsvollen, die unwillkürliche Wahlverwandtschaft mit den größten Genien der deutschen Tonkunst — das war es, was seiner Kunst, Kunstanschauung und Persönlichkeit jene Überlegenheit, Werbe- und Überzeugungskraft gab.

Merkwürdigerweise war dieser größte Darsteller Beethovens und Bachs, der so auffällig die besten Züge deutscher Art in seiner Kunst und Persönlichkeit verkörperte, nach Geburt und Rasse kein Deutscher, kein Germane, sondern der Sohn einer jüdisch-ungarischen Familie. Ein deutscher Künstler aber war er dem Geiste, der Wahlverwandtschaft, der Bildung nach. Bach und Beethoven haben ihn berufen und geleitet.

Ueber Joachim hat ein guter Stern gewaltet. Voll konnte seine Kunst und Persönlichkeit sich ausgestalten, und seine schöpferische Kraft sog immer neue Nahrung aus der Fülle und Tiefe seines Menschentums. Alle guten und großen Kräfte seiner Zeit wirkten auf ihn. Überblicken wir die Stationen seines Werdeganges: die Wiener Jahre mit ihrer gediegenen geigerischen und Kammermusikschulung, die Leipziger Periode unter den Sternen Mendelssohns und Schumanns und dem wieder aufgehenden Gestirn Bachs, Weimar mit den befruchtenden Frühlingsstürmen der neudeutschen Bewegung und die norddeutschen Jahre der Bekanntschaft und Freundschaft mit Brahms *) … Alle diese Stationen haben Joachim gebildet, erweitert, gehoben, ihn bewegt und an ihm gerüttelt, aber keine hat ihn entwurzelt oder ihn dauernd in ihren Bann geschlagen. Dieser Stamm stand zu fest im Boden. Seine Lebenskraft wuchs mit den Stürmen und trieb nach allen Seiten hin Zweige.

In den Stürmen der Wagner-Lisztschen Zeit, die eine vollkommene Umwälzung der musikalischen Anschauungen und Verhältnisse herbeiführten, wahrte Joachim seine eigenen Ideale, obwohl ihn zeitweise enge persönliche Bande an die beiden Reformatoren knüpften. So tief er den Virtuosen, Musiker und Menschen Liszt bewunderte, dem Tondichter leistete er nicht Gefolgschaft. Und so begeistert er das Genie Wagners anerkannte, so wenig entgingen ihm dessen künstlerische Einseitigkeiten und Schwächen. Den Charakterschwächen Wagners wie anderer gegenüber bewahrte er stets dieselbe vornehme Haltung.

Parteihaß und Parteihader mußten Halt machen vor dieser genialen, tief fühlenden und sinnenden Künstlererscheinung, deren Größe darin beruhte, daß hier eine eminente Virtuosenkraft geadelt war durch selbstlose, begeistertste Hingabe an die hehrsten Genien unserer Tonkunst, daß hier ein Musiker zum degenspendenden Priester wurde. Joseph Joachim, der weit über sein Spezialgebiet hinaus Bach und Beethoven uns erschloß, der Mendelssohn, Schumann und Brahms in der Klarheit und Tiefe seiner Kunst widerspiegelte, wird nicht bloß als einer der größten Geiger, sondern als begnadeter und geweihter Verkünder der sittlichen Macht der Töne, als ein getreuer Eckart der deutschen Musik im Gedächtnis der Nachwelt fortleben!

D. S. [Detlef Schultz]

*) dessen Briefwechsel mit Joachim demnächst bei der Deutschen Brahmsgesellschaft erscheinen und voraussichtlich sehr interessante Aufschlüsse geben wird.