Mährisches Tagblatt, Vol. 28, No. 185 (August 16, 1907), pp. 1-3.
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Feuilleton
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Josef Joachim †.
(Nachdruck verboten.)
Berlin, 16. August. Der Violinvirtuose Joseph Joachim ist gestern gestorben.
Eine der ehrwürdigsten Persönlichkeiten der Gegenwart, eine der bedeutendsten Künstlererscheinungen aller Zeiten ist mit Joseph Joachim vom Schauplatz abgetreten. Zugleich mit den Größten des vorigen Jahrhunderts, Liszt und Wagner, erschien auch er, um eine Zeitlang mit ihnen verbunden, denselben neuen Zielen zuzustreben. Dann aber schwenkte er plötzlich ab, und in dem Streit der Parteien, der damals die Musikwelt in zwei Lager teilte, bekannte er sich rückhaltlos als Gegner der modern-reformatorischen sogenannten neudeutschen Richtung. Unter Mendelssohns Augen war seine musikalische Erziehung abgeschlossen worden. Jetzt verband ihn eine immer enger werdende Freundschaft mit Schumann, die ihre innigste Bekräftigung erhielt, als der junge, unbekannte Johannes Brahms von Joachim Schumann zugeführt und von diesem als “Messias der Tonkunst” begeistert aufgenommen wurde. Der Zusammenschluß mit Brahms gab Joachims künstlerischem Charakter den entscheidenden Zug für sein ganzes Leben. In unbeirrbarer, überlegener Ruhe blieb er der erkämpften Ueberzeugung treu und wurde schließlich ihr Opfer. Er erlebte den endgiltigen Sieg Wagners, und wenn auch die Brahms-Gemeinde allmählich Boden gewann, so blieb sie doch stets auf einen engen Kreis beschränkt.
Dieser vergebliche Kampf gegen die künstlerischen Machthaber der Gegenwart gibt dem reichgesegneten Leben Joachims einen tragischen Akzent. Er isolierte sich dadurch und mußte es schließlich mitansehen, wie er als Inhaber einer der einflußreichsten Stellungen der Reichshaputstadt mehr und mehr die Fühlung mit den vorwärtstreibenden Kräften verlor. Es ist eine im Grunde müßige Spekulation, zu überlegen, welche Vorteile der Kunst aus einem Zusammenwirken Joachims und der um Wagner und Liszt gruppierten Künstler hätten erwachsen können. Sicher ist jedenfalls, daß durch jene unfruchtbaren Parteikämpfe viele kostbaren Fähigkeiten nutzlos vergeudet und manche große Kunsttat im Keime erstickt wurde. Was Joachim von Wagner forttrieb, war vielleicht im tiefsten Innern die Empfindung, daß Wagner für sein Werk von jedem der Beteiligten die volle, restlose Hingabe der Persönlichkeit verlangte, während Joachim eine so unbedingte Konzentration aller Kräfte an eine einzige Aufgabe nicht wenden mochte. Allein war er aber nicht reich genug, um Wagner gegenüber sich als selbstständige gegnerische Erscheinung behaupten zu können. So suchte und fand er zur Ergänzung des ihm Fehlenden erst Schumann und dann Brahms. Und an der Seite dieser Mitkämpfer, die ihm mehr persönliche Freiheit ließen als der despotische Bayreuther Meister, entwickelte und kräftigte er all die großen Eigenschaften, welche ihm von Gottes Gnaden verliehen waren.
Das Merkwürdige an Joachim besteht darin: er ist eigentlich nur ausübender Instrumentalvirtuos. Seine eingeborenen allgemein musikalischen Gaben sind aber so bedeutend, daß sie ihm eine Position verschaffen, wie sie sonst nur Künstler von weit umfassender Begabung einzunehmen befähigt sind. Bei ihm baut sich alles auf der Basis des Violinspiels auf. Aber die damit scheinbar gegebene enge Begrenzung verliert sich ganz, und ein Musiker von denkbar höchstem Intellekt, von vielseitigster Aufnahmefähigkeit, von feinstem allumfassenden Empfinden, von einer seltenen Bildung des Geschmackes, von Verständnis für die subtilsten Kunstfragen steht vor uns. Man muß sich diesen geistigen Vollgehalt von Joachims Natur vor Augen halten, um seine Bedeutung für die Musikgeschichte richtig zu würdigen. Es ist daher schwer, den Geiger Joachim gesondert von dem Musiker zu betrachten, denn beide erklären erst einander. Einen Fortschritt auf speziell violinistischem Gebiet hat uns Joachim nicht gebracht. Fortschrittsmänner, die der Technik neue Wege erschlossen, unbekannte Ausdrucksquellen aufdeckten, waren unmittelbar vor ihm Nicolo Paganini oder Louis Spohr gewesen. Paganini als abenteuerlicher Zaubermann, dessen märchenhafte technische Künste Anlaß zu Legendenbildung gaben und die größten Geister seiner faszinierten — ohne daß es ihm je gelungen wäre, tieferen Gemütsanteil zu erwecken. Anders geartet war der deutsche Spohr, eine feinpoetische Natur mit reicher produktiver Veranlagung. Ihm gelang es, durch Aneignung und Weiterbildung der französischen Violinkunst eines Rode, Kreutzer usw. der deutschen Schule neue fruchtbare Elemente zuzuführen und ebenso originell wie meisterhaft zu verarbeiten. Neben Spohr gehalten, verblaßt Joachims Bild etwas. Jener war der geborene Komponist, der zufällig Geige spielte. Joachim war der geborene Geiger, dem kein anderes Ausdrucksmedium zu Gebote stand, dem die Produktionskraft versagt blieb. Man kann daher wohl von Spohrscher Technik, Spohrscher Kantilene sprechen — aber man kann die gleichen Worte nicht in Bezug auf Joachim anwenden. Wir Jüngeren, die ihn nicht mehr im Vollbesitz seiner Fähigkeiten hören konnten, sind ohne abschließendes Bild seiner Kunst, und spätere Generationen werden ihn nur der Sage nach kennen. Paganinis oder Spohrs Spiel dagegen kann man sich immerhin aus ihren Kompositionen annähernd rekonstuieren.
Aber dieses Manko von Joachims Begabung wurde gleichzeitig das Fundament seiner Größe. War es ihm verschlossen, persönliche Eitelkeit zu pflegen, so nahm er sich der vererbten älteren Literatur umso eifriger an. Und war es ihm versagt, durch unentdeckte mechanische Fertigkeiten die Leute zu verblüffen, so strebte er desto inniger, die übernommenen Vorlagen geistig zu durchdringen, ihren Inhalt zu erforschen und als reproduzierender Künstler im edelsten Sinne aus seinem Spiel die Psyche des Werkes selbst aufleuchten zu lassen. Ein natürlicher Ernst des Charakters ließ ihn von vornherein alle leichte Ware, alles Reißertum verschmähen. Und eine gewisse, angeborene Schwerfälligkeit (— es ist bekannt, daß Joachim nie ein gutes Staccato besessen hat —) [1] hielt ihn noch mehr von der gangbaren Virtuosenliteratur zurück. So wandte er sein Können ungeteilt an die musikalischen Meisterwerke der Violinliteratur, die uns Bach, Mozart und Beethoven geschenkt haben. In der lebens- und schönheitsvollen Gestaltung dieser Stücke liegt der Schwerpunkt von Joachims Künstlerschaft. Hier war es ihm gegeben, ohne eigentlich selbstschöpferische Veranlagung, doch produktiv im weitesten Sinne zu wirken — wenn man mit Goethe von einer “Produktivität der Taten” reden will.
Joachims Ton blendete und schmeichelte nicht durch empfindsame Sinnlichkeit. Seinem Spiel wie seiner Persönlichkeit lag jedes äußere Dekor fern. Es war ein Ton, der innerlich wärmte, zu Fühlen und Denken in absoluter Reinheit anregte, ein Ton, der in seiner keuschen Schönheit etwas Transzendentes an sich trug. Joachims Spiel vergeistigte, verklärte. Es lag nichts Gefallsüchtiges, gar keine Koketterie darin. Sondern das Streben zu abstrohieren, eine geheime Neigung zur Mystik. Das Mechanische blieb bei ihm stets in untergeordneter Bedeutung, und wenn er es schon liebte, etwas massive Doppelgriff-Technik gelegentlich anzuwenden, so wußte er doch stets die rechtfertigende gedankliche Grundlage zu schaffen. Ich denke hier an seine Kadenzen zu Beethovens Violinkonzert, die fraglos vor allen ähnlichen Versuchen andrer Geiger den Vorzug verdienen.
Dagegen gelang es Joachim nicht, mit seinen übrigen Kompositionen weitere Kreise zu interessieren. Viel hat er überhaupt nicht geschrieben — bekannt geworden sind nur: das 2. (ungarische) Violinkonzert, die ungarischen Variationen für Violine mit Orchester und die Ouverture zu “Heinrich IV.” Sämtliche Werke zeichnen sich durch peinliche Gediegenheit aus, lassen aber so wenig originelle Phantasie und Gestaltungskraft erkennen, daß einzig der Name ihres Autors ihnen vorübergehende Beachtung verschafft hat. Länger als der Komponist wird der Geiger Joachim im Gedächtnis der Nachwelt leben: als kongenialer Interpret Bachs und Beethovens in Solo- wie in Kammermusikwerken. Die Joachimsche Quartettkunst wird allen unvergeßlich bleiben, welche sie je miterlebt haben. Denn was der Solist Joachim noch dem Virtuosentum and Tribut entrichten mußte, das fiel beim Kammermusikspiel gänzlich fort. Hier bot Joachim etwas, das in solcher Vollendung kaum je dagewesen ist und schwerlich wiederkommen wird, nach seinem Muster Ensemblekunst zu treiben. Denn all denen seiner Schüler, die versuchen, fehlt doch bei allem Eifer das wesentlichste: die große, tiefschauende und denkende Persönlichkeit, die bis auf den Grund der Dinge blickt und die geheimsten Intentionen der großen Genien nachfühlend zu deuten weiß. Joachim ist der apollinische Künstler. Darum fand die größte Bewegung des 19. Jahrhunderts keine dauernde Teilnahme bei ihm — darum besaß er doch Gaben, die ihn zu einer ganz einzigen Erscheinung der Musikgeschichte stempeln.
Man hat Joachim oft einen Vorwurf aus seiner langen öffentlichen Betätigung gemacht und ihm gegenüber auf Liszt hingewiesen, der sich auf dem Höhepunkte seines Könnens vom großen Publikum verabschiedete. Abgesehen von der Verschiedenheit der beiden hier verglichenen Künstlercharaktere, abgesehen von den Gründen rein privater Natur, die Joachim zu öffentlichen Musizieren veranlaßten, läßt man außer acht, daß Liszt sich mittlerweile einen ganz neuen Wirkungskreis geschaffen hatte, während Joachim zeitlebens an das Konzertieren als Hauptberuf gefesselt blieb, denn die Möglichkeit zu pädagogischer Wirksamkeit, die ihm in die Hände gegeben war wußte er nicht richtig auszunützen. Die einseitigkeit seiner Kunstanschauung war hier ein Hemmnis für ihn. Er beging den Fehler, an die von ihm organisierte und bis zu seinem Tode geleitete Berliner Hochschule für Musik ausschließlich Lehrer seiner Gesinnung zu berufen und impfte dem Institut dadurch von vornherein den Geist dogmatischer Rückständigkeit und Unfreiheit ein. Auch seiner Tätigkeit als Violinlehrer im besonderen fehlten die großen Erfolge. Er bildete gediegene Musiker und tüchtige Geiger, aber er verstand es nicht eigene Individualitäten zu wecken und wenn vor der ehrwürdigen, beinahe schon historisch gewordenen Persönlichkeit Joachim manches scharfe Urteil bisher zurückgehalten wurde, so darf man doch jetzt auf eine gründliche Neugestaltung der Hochschulorganisation hoffen.
Joachims Lebensgang bewegt sich in verhältnismäßig einfachen Linien. Am 28. Juni 1831 zu Kittsee bei Preßburg geboren, kam er als Wunderzögling der Wiener Geigerschule bald in die Welt hinaus, und empfing in Leipzig die letzten gründlichen Einführungen in alle Disziplinen der Musikwissenschaft. Von großen Kunstreisen, die ihn namentlich in England bekannt und populär machten, abgesehen, bilden Weimar und Hannover die markanten, größeren Stationen auf seinem Wege. 1866 (?) vertauschte er Hannover mit Berlin, um hier die neugegründete Hochschule für Musik zu leiten. Bewunderungswürdig war seine Frische und lebendige Rüstigkeit, die er sich bis auf die letzte Zeit bewahrte — wer ihn sah, staunte über die urgesunde, kräftige, körperliche Natur des Sechsundsiebzigjährigen ebenso wie über sein geistiges wachsames Interesse für die ihn berührenden Dinge. Zweifellos, daß eine Persönlichkeit von so hohem, berechtigtem Selbstgefühl starke Einseitigkeiten in sich trug, namentlich durch die rücksichtslose Schärfe manches Urteils vielen Schaden gestiftet hat. Versöhnend wirkt solchen Fehlern gegenüber die innere Ehrlichkeit der Ueberzeugung, welche man bei Joachim stets voraussetzen kann. Er war ein echter freier Künstler. “Frei, aber einsam” lautete sein Wahlspruch.
Und hinter ihm, im wesenlosen Scheine
Lag, was uns alle bändigt, das Gemeine.
[1] In his youth, Joachim was famous for his staccato.