Berliner Tageblatt und Handels-Zeitung, Vol. 36, No. 413 (August 16, 1907), pp. 2-3.

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Joseph Joachim.
Von
Dr. Leopold Schmidt.

Lange, lange schon mußten wir es kommen sehen — aber wir mochten uns mit dem Gedanken nicht vertraut machen. Das rüstige Alter des Meisters kam unserer Neigung entgegen, den Wandel der Dinge zu vergessen, und machte es der Vorstellung doppelt schwer, sich die ehrwürdige Gestalt aus dem Konzertleben fortzudenken. Wenn am Ende eines Winters in der letzten Quartettsoirée das teure Haupt sich in seiner vornehm-bescheidenen Weise dem endlosen Beifall neigte, regte sich wohl zuweilen in den Herzen seiner Hörer die bange Frage nach der Zukunft; aber wie auf etwas Selbstverständliches rechnete man stets auf sein Wiedererscheinen an der historisch gewordenen Stätte seiner Wirksamkeit. Wir mußten die Jahre zählen, wir mußten besorgniserregende Kunde erhalten, um das nahe Ende ernstlich vor Augen zu haben.

Man sagt, kein Mensch sei unersetzlich. Das trifft für Persönlichkeiten wie Joachim ganz gewiß nicht zu. Die Lücke, die sein Hinscheiden hinterlässt, wird auf zu verschiedenen Gebieten empfunden werden, als daß sie je ausgefüllt werden könnte. Hervorragende Künstler haben neben ihm gelebt und werden nach ihm kommen, deren Können und Energie unsere Verwunderung erheischen. Was ihnen Joachim gegenüber fehlt, ist das Geschlossene der Persönlichkeit und das, ich möchte sagen, reine Verhältnis zu ihrer Kunst. Joachim war der Letzte einer Generation, die noch unberührt war von Reklame- und gewinnsüchtigen Neigungen der Jetztzeit, die sich in idealistischer Gesinnung auslebte in dem, was sie sein mußte. Das war es wohl auch, was die Menge empfand, so oft der Meister das Podium betrat. Wer es miterlebt hat, welche Bewegung dann durch den Saal ging, wie dieser Beifall so ganz anders klang als der den Virtuosen gespendete, der weiß, in wie hohem Grade sich hier eine seltene Vereinigung von Mensch und Künstler wirksam erwies. In Joachim verkörperte sich eine längst entschwundene Zeit, die er zuletzt allein noch vertrat, und die mit ihm zu Grabe getragen wird. In Jahrzehnten treuester Hingabe an seinen Beruf hatte sich ein Nimbus um seine Person gebildet der überall empfunden und gewürdigt wurde. Und darin lag wohl vor allem die Bedeutung seines an Erfolgen und Ehrungen beispiellosen Daseins begründet. Joachim war mehr als ein Liebling des Publikums; auf einsamer Höhe stand er, der Stolz des musikalischen Deutschlands, gleich angesehen im Auslands, vornehmlich in England, das ihm fast eine zweite künstlerische Heimat geworden.

Es wäre kleinlich, seiner gedenkend nur von dem großen Geiger zu sprechen. Gewiß hat er, selbst als Virtuose, nicht seinesgleichen gehabt. Das wissen am besten seine Schüler, denen er in guten Zeiten mühelos vormachte, womit in öffentlichen Konzerten zu pruuken [sic] er verschmähte; die beobachten konnten, wie unabhängig seine Technik war, wie er sich in Proben und Aufführungen oft ganz verschiedener Lagen und Fingersätze bediente. Auch die Besucher seiner Quartettabende (in denen er vielleicht das Feinste und Beste seiner Kunst gegeben) erlebten es oft genug, daß er beim Reißen einer Saite unvorbereitet auf der anderen weiterspielte. Er, der geborene Ungar, war eben wie ein Zigeuner mit seinem Instrument verwachsen, das beim Musizieren gleichsam ein Glied seines Körpers wurde. Sein ganzes Spiel atmete Freiheit, Freiheit im Rhythmus, Freiheit in der Auffassung. Das überhörten diejenigen, die darin nur das Solide, technisch Vollendete und Edle wahrnahmen, mit dem Joachim recht eigentlich den Stil einer modernen deutschen Geigerschule begründet hat. Allein auch der Lehrmeister vervollständigt das Gesamtbild des Mannes nur halb. Als solcher hat er mittelbar und unmittelbar weitesten Einfluß geübt. Vor allem durch sein Vorbild; dann aber durch die zahllosen Schüler, die seine Lehre und Anschauungen in die ganze Welt getragen haben. Das Beste freilich konnte ihm niemand abgucken, das bleibt immer an die Persönlichkeit gebunden.

Das Wesentlichste in Joachims Erscheinung war bei alledem der eminente Musiker. Sein geniales Violinspiel war nur die zufällige Emanation einer Musiknatur, wie sie stärker kaum jemals auf die Mitwelt gewirkt hat. Deshalb konnten so gut wie Geiger auch Sänger, selbst Komponisten von ihm lernen. Nur so erklärt es sich auch, daß er mutschaffend das Musizieren von Generationen bestimmen konnte. Bekannt is, was er allein für die Darstellung der Beethovenschen Musik getan hat. Sein Vortrag des Violinkonzertes bedeutete seinerzeit eine Offenbarung, und wie er die gesamte Quartettmusik Beethovens zum Leben erweckt hat, wird sie für immer vorbildlich bleiben. Nicht weniger aber hat er mit dazu beigetragen, für die Auffassung und den Vortrag Bachs die Richtschnur zu geben, und mehr, als wir uns vielleicht bewußt sind, ist unsere Vorstellung von Spohr und Mendelssohn durch ihn beeinflußt. Seinen Freunden Schumann und Brahms endlich hat er wie im Leben, so in ihrem Schaffen als unermüdlicher Vermittler nahe gestanden.

Als ausübender Musiker ist Joachim in seiner Art nur wenigen Auserwählten an die Seite zu setzen. Liszt und Rubinstein als Pianisten, Stockhausen als Sänger waren aus demselben Holz geschnitzt. Wie diesen war es Joachim gegeben, den Hörer vom ersten Ton an in seinen Bann zu zwingen, und diese Macht entsprang wiederum der eigenen unbedingten Hingabe an die Sache. Joachim war es immer nur um die Musik zu tun, die er machte, und das fühlte man und folgte ihm willig. Das war das Geheimnis seiner Größe, die auch von den Gegnern — und Joachim hatte deren — anerkannte werden mußte.

Daß eine solche Künstlernatur sich auch schöpferisch betätigte, ist nur natürlich, wenn auch der Komponist in Joachim erheblich hinter dem reproduzierenden Musiker zurücktrat. Um so energischer brachte er seinen persönlichen Geschmack zur Geltung. Man hat es dem Meister zum Vorwurf gemacht, daß er allzusehr an den Idealen seiner Jugend festgehalten habe und dem Fortschritt im Wege gewesen sei. Wer seine Entwicklung aufmerksam bis ans Ende verfolgt hat, weiß, daß dem nicht ganz so ist. Alles wahrhaft Große hat ihn empfänglich gefunden, und es wäre eine Fälschung, ihn schlechthin zu einem Anti-Wagnerianer zu stempeln. Wenn auch nach längerem Widerstreben, so haben doch sowohl die Werke des Bayreuthers wie manches andere Moderne (zum Beispiel Verdi) später seine wohlabgewogene Schätzung erfahren. Allerlei Persönliches spielte eben dabei mit. Andererseits muß man es verstehen und sich dessen freuen, daß eine so aufgeprägte Individualität überzeugungstreu auf festem Grund und Boden stand und die Schwankungen des Zeitgeschmackes nicht haltlos mitmachte. Die Kunst war ihm etwas Heiliges, und er konnte zornig werden, wenn er ihre Würde von frevelnden Händen angetastet glaubte. Die jüngste Phase der musikalischen Entwicklung lehnte der alternde Meister einfach ab. In den Werken unserer Modernen und ihren Exzentrizitäten (die er übrigens bis in seine letzten Lebenstage verfolgte) vermochte er nichts zu entdecken, was sich mit seinen Begriffen von Schönheit, musikalischer Erfindung oder auch nur technischem Können noch irgendwie hätte in Einklang bringen lassen.

Wir alle wissen, wie sehr beim Künstler die menschliche Persönlichkeit mitspricht, wie sie sein Wirken hemmen oder fördern kann. Die Art, wie Joachim auf dem Podium dastand, wie er die Geige hielt und sie liebevoll ansah, gehörte mit zu dem Eindruck seines Spiels. Im Leben besaß er im hohen Grade das, was wir Charme nennen. Er konnte überaus gewinnend sein. Aus meiner Studienzeit kommen mir kleine Züge, die bezeichnend dafür sind, in die Erinnerung. Einst passierte Frau Neruda in der Probe, als sie Vittis [sic — recte: Viotti] A-moll-Konzert spielte, ein kleiner Gedächtnisfehler. “Seltsam,” sagte Joachim, um der Künstlerin chevaleresk über jede Verlegenheit vor dem Orchester hinwegzuhelfen, “an derselben Stelle komme ich auch immer heraus.” Als Eleve der Hochschule war ich mit einem der Lehrer in Konflikt geraten und verweigerte den weiteren Besuch seines Kursus. Ich wurde zum Direktor beschieden. In Erwartung ernstlicher Vorhaltungen und fest entschlossen, mein Recht zu behaupten, betrat ich des Meisters Amtszimmer. Freundlich wird ich gebeten, Platz zu nehmen; dann erwähnte Joachim kurz meine Weigerung, sah mich mit seinen tiefen Augen an und sagte, indem er mir die Hand bot: “Würden Sie wieder hingehen, wenn Sie mir damit einen Gefallen tun?” Natürlich tat ich es; es wäre unmöglich gewesen, in diesem Augenblick nein zu sagen.

Es gibt viele, die in ihrer Beurteilung den Menschen vom Künstler scharf getrennt haben. Joachim was wie alle temperamentvollen Naturen von starken Sympathien und Antipathien beherrscht. Auch war er durchaus keine von den verträumten, weltfremden Künstlerseelen und wußte aufrecht seinen Weg zu verfolgen. Da mochte es manchem nicht behagen, daß dieser Weg so hoch hinaufführte. Aber trotz allen Parteiengezänkes, trotz aller Strebungen, die sich im besonderen gegen Joachims Schöpfung, die königliche Hochschule für Musik, richteten, hat seine ehrwürdige Persönlichkeit, der schließlich auch das Unglück nicht erspart geblieben ist, die Kritiker zum Schweigen gebracht. Auch wer nicht in unbewachten Momenten einen Blick in diese Seele getan, wer nichts von den Opfern wußte, die das Leben von ihr gefordert: der konnte aus dem rührenden Ton seiner Kantilene, aus der männlichen Art der Pflichterfüllung bis zum letzten Krankenlager erkennen, welch guter und edler Mensch dieser Künstler gewesen ist. Am offenen Sarge, man kann es in Wahrheit sagen, wird nichts laut als die Trauer um den Heimgegangenen.

Schon jetzt dünkt uns der Verlust groß. Aber erst später und ganz allmählich werden wir in vollem Umfange uns bewußt werden, was wir an Josef Joachim verloren haben.

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Im Sterbezimmer Joachims waren gestern beim Ableben des Meisters seine Töchter Frau Feld-Joachim, Marie und Elisabeth und die Söhne Dr. Paul, Dr. Hermann und Hauptmann Joachim versammelt. Ferner waren die Mitglieder des Joachim-Quartetts, die Professoren Halir, Hausmann und Wirth sowie die Herren Franz und Robert v. Mendelssohn anwesend. Joachim ist ganz sanft entschlafen.

Die von der Akademie der Künste veranstaltete Trauerfeier findet in der Hochschule für Musik in Charlottenburg am Montag, den 19. d. M., nachmittags 4 Uhr statt. Die Beerdigung erfolgt nach dem Kirchhof der Kaiser Wilhelm-Gedächtniskirche.


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