Blätter für Haus- und Kirchenmusik, Vol. 11, No. 12, (September 1, 1907), pp. 177-179.

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Josef Joachim †.

“Nur ein Geiger!” Allerdings der größten einer. Und als ihm der Tod am 15. August das Saitenspiel zerschlug, gedachten wir wehmütig der Stunden da er es uns in so wundervoller Weise erklingen ließ.

Aber doch war er auch wieder mehr als ein bloßer Geiger. Fast vier Jahrzehnte hindurch wirkte er in der Reichshauptstadt und war als ausübender Künstler für die Entfaltung und Entwicklung des musikalischen Lebens in ihr von großer Bedeutung. Von größerer aber und von weittragenderer als Lehrer seines Instruments. Richtiger gesagt: seiner Kunst. Denn das war das Beste an ihm, daß er nicht nur gute Geiger bilden wollte, sondern gute Geiger, die zugleich echte Künstler wären. — — Wird jetzt wohl in Nachrufen, die dem entschlafenen Geigenmeister gewidmet sind, in erklärlicher Begeisterung gesagt, er habe der ganzen Musikentwicklung in Berlin die Wege gewiesen  — in einem heißt es sogar, er habe der ganzen Musikwelt Richtung und Ziel gegeben — so braucht man demgegenüber doch nur darauf hinzuweisen, daß naturgemäß ja weitgehender und wirksamer jener Einfluß ist, den die Oper, den die Orchester- und Gesangskonzerte ausüben, als der von wenigen Quartettabenden, von noch weniger Solovorträgen oder gar von der nicht öffentlichen Musikdarbietung in der Hochschule ausgeht.

Im Wesen Joachims, in seinem Werdegange sowie in der Auffassung und Lehre seiner Kunst findet sich auffallend viel, was zu einer Vergleichung mit dem großen Spohr, dem Vater der deutschen Geigerschule, reizt, der ja noch vielseitiger war als Joachim, der sein Ideal aber auch in den Klassikern beschlossen sah.

Spohrs Leben reichte nahe an 76 Jahre, Joachims ging etwas darüber hinaus. Beide wirkten fast 40 Jahre lang in ihren hervorragenden Stellungen. Beider Talent bekundete sich zuerst dadurch, daß sie Lieder auf einer Kindergeige nachspielten, die der eine von der Mutter, der andere von der Schwester hatte singen hören. Beider Bogentechnik war anfangs vernachlässigt und mußte später ernstlich umgebildet werden. Beide wählten sich eine Künstlerin zur Lebensgefährtin, Spohr eine Harfenspielerin, Joachim eine Sängerin, mit denen beide auch auswärts, so in Paris, namentlich aber viele Jahre hindurch in London konzertierten. Beider Haupttätigkeit fällt in die Zeit nach großen geschichtlichen Ereignissen. Diejenige Spohrs nach des Vaterlandes Errettung von der Fremdherrschaft, die Joachimsche beginnt mit der Wiederaufrichtung des deutschen Reiches. Spohr sah in dem formschönen und gefühlsinnigen Mozart sein Vorbild, und bald wurde er, nur anfangs ein Verehrer Beethovens, ein entschiedener Gegner seiner Musik. So wurzelte Joachims Künstlerseele in dem tiefgründigen Beethoven, während ihn Wagners Musik nur kurze Zeit anzog, und er sich ihr dann feindlich gegenüberstellte. Als Spohrs Geigerschule in Kassel 1859 ihr Ende fand, begann die Joachims in Hannover zu erblühen, um sich dann zehn Jahre später in Berlin herrlich zu entwickeln. Was Spohr begonnen hatte, setzte Joachim im gleichen Geiste fort. Aber er vertiefte die Kunst des Violinspiels, indem er ihr höhere Aufgaben zu lösen gab.

Es paßt durchaus auch auf Joachim, was Rochlitz von Spohr sagt: “Die ausgezeichnetste Fertigkeit, alle Arten des Bogenstriches, alle Verschiedenheiten des Geigentones, die ungezwungenste Leichtigkeit, das macht ihn zu einem der geschicktesten Virtuosen. Aber die Seele, die er seinem Spiele einhaucht, die Innigkeit des Gefühls und seine Einsicht in den Geist der verschiedensten Kompositionen und seine Kunst, jede in ihrem Geiste darzustellen, das macht ihn zum wahren Künstler.”

Joachim, am 28. Juni 1831 in Köpcsény bei Preßburg geboren, hatte den ersten Violinunterricht bei Szervaczinski, dem Konzertmeister der Pestet Oper, kam aber schon 1838 nach Wien, wo ihn Miska Hauser kurze Zeit und dann Josef Böhm fünf Jahre lang unterrichtete. Ihm verdankte er fast alles, was er konnte. Als fertiger Spieler ging er 1843 nach Leipzig, wo er in demselben Jahre bereits im Gewandhause mit großem Erfolge auftrat. Unter Mendelssohns Direktion spielte er 1844 in London zum ersten Male öffentlich das Beethovenkonzert und zwar den Berichten zufolge Meisterlich. Liszt zog ihn nach Weimar, wo er 1849 Konzertmeister wurde. Doch schon 1853 nahm er eine Stellung in Hannover an, die ihn für die Oper und für Solovorträge in den Hofkonzerten verpflichtete. Seiner wissenschaftlichen Ausbildung hatte er in Leipzig schon fleißig obgelegen. Von Hannover aus besuchte er eine Zeitlang Vorlesungen an der Universität zu Göttingen. — Kurze Zeit und nur äußerlich gehörte er der neudeutschen Schule an, öffentlich sagte er sich von ihr los, schrieb auch an Liszt, daß er selbst ihm wert, seine Musik ihm aber stets fremd bleiben werde. Mit Wärme wandte er sich dann der Persönlichkeit und der Musik des Brahms zu. — Er durfte sich in Hannover der Gunst des Königspaars erfreuen, das sich ihm auch zu Taufpaten anbot, als er zum Christentume übertrat. Bald darauf vermählte er sich mit der Opernsängerin Amalie Schneeweiß. Durch die staatliche Umwälzung des Jahres 1866 wurde er seiner Verpflichtungen in Hannover ledig. Zunächst machte er mit seiner Gattin weitere Kunstreisen und ließ sich dann 1868 in Berlin nieder, wo er bald darauf zum Direktor der Königlichen Akademischen Hochschule für Musik ernannt wurde. Das blieb er bis 1882. Da bestimmte ein neues Statut, daß die Vorsteher der vier Abteilungen (für Komposition, für Gesang, für Orchesterinstrumente und für Klavier) in jährlichem Wechsel die Direktion zu übernehmen hätten. Im Jahre 1893 ordnete indes der Kaiser an, daß Joachim, solange er lebe, als Direktor des Instituts zu betrachten sei. Mit seinem Tode wird daher nicht die Stelle des Direktors, sondern nur die des Vorstehers der Abteilung für Orchestreinstrumente frei.

Während seiner Lehrtätigkeit an der Hochschule behielt Joachim seine Konzertreisen, namentlich die nach London, bei. Schon bald nach seiner Anstellung begründete er das weltberühmte Streich-Quartett, das am längsten in der Besetzung Joachim-de Ahna-Wirth-Hausmann bestand und vorzugsweise Haydn, Mozart und Beethoven pflegte, diesen auch namentlich in seinen letzten Quartetten. Lange Jahre hindurch blieben diese Quartett-Darbietungen mustergültig. Joachim, obschon der Geburt nach kein Deutscher, war doch mit deutschem Empfinden durchtränkt. Von seinem siebenten Jahre an atmete er deutsche Luft und lebte und webte von da ab fortwährend in der Atmosphäre der deutschen Kunst. Daher ist er ihr ein treuer Anhänger und selbstbewusster Apostel gewesen. Und dies Selbstbewusstsein, das sich meist in der edlen Form der Würde zeigte, drückte sich auch äußerlich bei seinem Auftreten aus, wie wir selbst es noch in ähnlicher Weise bei der reckenhaften Persönlichkeit Spohrs gesehen haben. Joachim war aller Griff- und Strichkünste Meister, kehrte aber nie den Virtuosen hervor, sondern wandte von seiner großen Kunstfertigkeit nur soviel an, wie erforderlich war, die Vortragsstücke möglichst vollendet darzustellen. Mit feinem Sinne drang er in das Verständnis eines jeden derselben ein, und es war ihm gegeben, es auch seinen Partnern zu vermitteln. So brachte er die Quartette im Geiste der Komponisten, aber doch vom Hauche seines eigenen Gefühls durchweht, heraus. Wer das in seiner guten Zeit erlebt hat, wer ihen damals das Mendelssohn- oder Beethoven-konzert sowie Bachs Sachen für eine Sologeige hat spielen hören, der ist Zeuge von etwas Unvergleichlichem gewesen. Die Wahrheit aber verlangt die Feststellung, daß die Kraft des Siebzigjährigen schon nachließ. Wie hätte die des Sechsundsiebzigjährigen noch ausreichen können! Aber so groß war die Verehrung für den Künstler, daß man bis zuletzt ihm zujubelte, wenn er nur auftrat und — aus übergroßer Liebe blind und taub — entzückt war, wenn er spielte. Die Menge sah nicht den kurzen, unsichern Strich, hörte nicht den müden, oft unreinen Ton. Doch es gab auch Zuhörer, denen dann Joachims Spiel schmerzlich war.

Wenigen Sterblichen war das Glück so hold, wie dem nun von uns Geschiedenen. Man kann sagen, daß er beständig auf sonnigen Höhen gewandelt sei. Gar selten nur verdunkelte seinen lachenden Himmel eine Wolke. “An Ehren und an Siegen reich” beschloss er sein langes Leben. Und das schwere Leiden, von dem er in den letzten Wochen betroffen wurde, kam ihm kaum noch zu Bewusstsein. Ihm selbst nicht bemerkbar, zog ihn der Tod sachte in seine Schatten und raunte ihm dabei die Worte des zweiten Themas aus dem Schubertschen d Moll-Quartett, das er uns so oft herrlich vorgeführt hat, ins Ohr: “Sei gutes Muts, ich bin nicht wild, sollst sanft in meinen Armen schlafen!” Mit großem Gepränge und angesichts von Tausenden, die ihn auf seinem letzten Wege geleiteten, wurde er am 19. August auf dem Kirchhöfe der Kaiser Wilhelm-Gedächtniskirche ins Grab gelegt. Zu den Modernen gehörte er in keiner Weise, er hätte sich sonst verbrennen lassen.

*                             *

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Was wir gegen ihn hatten: daß er der Kunst Schranken setzte, daß er sich zu der großen Entwicklung der deutschen Musik, die durch den Namen Richard Wagner bezeichnet wird, feindlich verhielt und seinen Schülern nicht einmal gestatten wollte, ihr teilnehmend zu folgen, das braucht hier nicht erörtert zu werden, durfte aber nicht verschwiegen bleiben.

Wenn es nun auch mit dem Joachim-Quartette zu Ende ist, wenn des Meisters Sologeige uns auch nicht mehr erfreuen wird — wir können es tief beklagen, brauchen aber nicht zu verzagen. Es gibt schon und wird fernerhin vorzügliche Streichquartette geben, und auch hervorragende Bach- und Beethovenspieler werden wir nicht zu entbehren brauchen. Die schöne Grabschrift Grillparzers für Franz Schubert paßt in ihrer ersten Hälfte auch für Joachims Ruhestätte: “Die Tonkunst begrub hier einen reichen Besitz.” Die zweite Hälfte können wir, die trauernden Hinterbliebenen, als Trost mit einer leichten Abänderung auf uns beziehen: “Aber es bleiben uns schöne Hoffnungen.”

Joachims ernster, hochstrebender Kunstsinn und seine Geigenkunst sind nicht mit ihm gestorben. Der ausübende Künstler zwar ist von uns gegangen, der große Lehrmeister jedoch lebt in einer reichen Anzahl seiner Schüler fort. Als Lehrer ihres Instrumentes, als Solisten, Orchestermitglieder, Kapellmeister findet man sie in allen Landen, in seinem Geiste wirkend. Nicht das ist sein größter Ruhm, daß er einige erhabene Kunstwerke unvergleichlich zur Geltung zu bringen wußte — das blieb auf engen Raum und kurze Zeit beschränkt. Sondern, daß er seinen Geist auf Schüler übertragen konnte, die nun echte Kunst und edlen Kunstsinn überall hin verbreiten. In ihnen lebt Joachim weiter und wird so noch lange weiter leben.

Berlin, 20. August 1907.      Rud. Fiege


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