Julius Rodenberg, “Zur Erinnerung an Joseph Joachim,” Deutsche Rundschau, vol. 135 (April — May — June, 1908), 223-231.
Photo: Ferdinand Schmutzer
Austrian National Library Picture Archive
Black and white glass negative
Inv. No. LSCH 01317-C
Zur Erinnerung an Joseph Joachim.
Von Julius Rodenberg.
Wenn ich jetzt an Joseph Joachim denke, so steht mir, was immer sich auch seitdem in meiner Erinnerung verwischt haben mag, ein Bild deutlich vor Augen: ein Spätnachmittag im Vorfrühling 1855; ein altmodiges Haus am Friedrichswall zu Hannover; ein trauliches Zimmer, in dem es bereits zu dämmern beginnt ; die Fensterreihe blickt auf die Masch, eine weite Fläche, deren Rasendecke noch halb unter Wasser steht; am fernen Westhimmel ein Streifen Abendrot und hinein gezeichnet eine dunkelblaue Linie, die Deisterkette, hinter der meine Heimat liegt. Wunderbare Harmonien, wie aus andern Sphären, erklingen sanft und weich — ein Jüngling, auf der Geige musizierend, wandelt durch das Zwielicht auf und ab, und ganz im Dunkel sitzend begleitet ihn eine junge Dame auf der Harfe —.
Später, viel später, wenn ich vor einem der lieblichen Bilder Fra Angelicos stand, hab ich die Empfindung gehabt, daß die Musik dieser Engel, wenn man sie vernehmen könnte, Wohl so sein möchte wie die in jener Dämmerstunde am Friedrichswall zu Hannover.
Die Harfenspielerin war die Gräfin Sauerma, Ludwig Spohrs Nichte, als Rosalie Spohr einst selbst berühmt; und der Geigenspieler war Joseph Joachim. —
Wohl Hab ich ihn manchmal vorher und nachher gehört; doch so wie in jener Frühlingsdämmerung nur noch einmal: an dem Winterabend in der Regentenstraße zu Berlin, als er, in einem kleinen befreundeten Kreise zur Nachfeier von Marie von Olfers achtzigstem Geburtstag das schönste Weihegeschenk darbrachte — seine Kunst. Er spielte zuerst, mit Begleitung des Klaviers, einige Stücke von Beethoven, von Brahms, die der Jubilarin besonders lieb waren. Dann, in einer Pause, trat eine Dame der Gesellschaft zu Joachim und sagte: „Wir haben vorhin von Herman Grimms Novelle ,Der Landschaftsmaler’ gesprochen — erinnern Sie sich? Die Lösung eines schmerzlichen Seelenkampfes, die Befreiung wird dort durch Violinspiel herbeigeführt” … „Ja”, erwiderte Joachim, „es war die Sonate von Bach;
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ich habe sie Grimm oft Vorspielen müssen.” — Die Dame bat. ob er sie jetzt, zum Schlusse dieses Abends, nicht noch einmal spielen wolle — denn hier, in den Olfersschen Räumen und an diesem Abend sei der Abgeschiedene seinen Freunden nahe. Da trat Joachim, das Haupt auf sein Instrument geneigt, in die Mitte des Zimmers und begann zu spielen, mit jenem edlen Ausdruck der Persönlichkeit, der zur Andacht stimmte, mit jener Vollendung, an der nichts Irdisches mehr zu sein schien. — Es war das letzte Mal , daß ich Joachim gehört habe.
Mehr als fünfzig Jahre waren vergangen, seines und meines Lebens bester Teil. Was er in den hannoverschen Tagen versprochen, hatte sich glorreich erfüllt; alle höchsten Ehren hatten sich auf ihn gehäuft. Dennoch war und blieb er der Mensch, den man nicht bewundern konnte, ohne ihn lieb zu gewinnen. Wie fern lag ihm Eitelkeit! Aus seiner letzten Zeit liegt mir ein Brief vor, in dem er auf eine ihm dargebrachte Huldigung erwidert:
„Von Herzen habe ich zu danken, daß Sie so theilnahmvoll meinen Klängen folgten; ein so phantasievolles Errathen dessen, was der Künstler wohl möchte, aber auch in den besten Stunden nicht erreicht, ist gar wohlthuend.”
Schon als Konzertmeister in Hannover nahm er eine bevorzugte Stellung ein. Der musikliebende Hof war stolz auf seinen Besitz und zeichnete bei jeder Gelegenheit ihn aus. Der König Georg V., die Königin Marie waren für ihn sorgende Freunde, denen sein Wohl am Herzen lag — und wie hat er ihnen die Treue bis zuletzt gewahrt! Kein Sommer, in dem er das Königspaar im Exil und nach dem Tode des Königs die Königin Marie nicht besucht und durch die alten Weisen an die alten Zeiten erinnert hätte! Denn was auch in politischer Hinsicht gegen das Hannover des letzten Königs gesagt werden mag und muß: in künstlerischer ward es von keiner andern deutschen Stadt übertroffen, stand es selbst Berlin voran, das sich von dort erst, nicht nur Joachim, sondern auch Betz, Niemann und die Seebach holte. Und diese waren nicht die einzigen Größen des damaligen Hannovers: Heinrich Marschner lebte ja noch! Freilich unter einer Wolke. Die höfischen Kreise mochten ihn nicht, der seiner liberalen Gesinnung manch scharfen Ausdruck gab, und der Intendant, der zu den ältesten der hannoverschen Adelsgeschlechter gehörte, suchte ihn von der Bühne zu verdrängen, auf der „Hans Helling” und „Templer und Jüdin” immer noch populär waren. Marschner empfand diese Zurücksetzung bitter, und um so mehr, als der Stern Joachims aufzusteigen begann. Aber musterhaft hat dieser in einer so schwierigen Lage sich benommen. Daß kein eigentliches Verhältnis zwischen ihnen zustande gekommen, lag sicher an Marschner, der kein Vertrauen zu dem von der andern Seite Begünstigten fassen mochte. Doch nie hab ich Joachim von Marschner anders sprechen hören als in den Ausdrücken aufrichtiger Pietät, weder damals noch nachher; er war in diesem Betracht eines Sinnes mit Spitta, der einmal die Absicht hegte, ein nachgelassenes Werk des Meisters, die Komposition zu dem Liederspiel „Waldmüllers Margaret”, deren Partitur mir Marschner einst geschenkt, in der Hochschule für Musik zur Aufführung zu bringen. Und eines Anlasses entsinne ich mich, der Marschner und Joachim freundlich
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zusammengeführt hat: bei der Feier, die zu Ehren Spohrs im März 1855 in Hannover veranstaltet ward. Wenn es schon eine Freude war, die beiden Alten, den hünenhaften Ludwig Spohr und den behäbigen Heinrich Marschner als gute Kollegen miteinander zu sehen, so prägte sich dem Gedächtnis doch auch die Gestalt des Jüngeren ein, der sich bescheiden neben ihnen bewegte, wiewohl er mit dem als Geigenkünstler nicht minder denn als Komponisten Gefeierten im Quartettspiel rühmlich wetteiferte. Ja, es war auch eine Freude, diese beiden einander am Pulte gegenübersitzen zu sehen: den Siebzigjährigen und den Vierundzwanzigjährigen, den Alten, Massiven, Breitschulterigen, der einmal Deutschlands erster Violinist war, und den Jugendlichen, der es werden sollte, dessen Wuchs schlank, dessen Haar dunkelbraun war wie sein Auge.
Zu jener Zeit besaß ich ein von lieber Hand mir verehrtes Album. Natürlich durfte Spohr darin nicht fehlen; mit der zierlichen Hand, die man dem Riesen kaum zugetraut hätte, schrieb er mir die vier ersten Takte seiner Doppelsinfonie „Kinderwelt” hinein. Einige Tage später bat ich Joachim um seine Inschrift ; und auf dieselbe Seite, unter Spohr, trug er, in den festen Zügen, die sich später kaum geändert haben, folgendes ein:
Immer strebe zum Ganzen, und kannst du selber kein Ganzes
Werden, als dienendes Glied schlich an ein Ganzes dich an.
Möchte dieser Satz Sie an die Feier des greisen Meisters in Hannover und meinen Antheil daran erinnern.
Hannover, den 18ten April 1855. Joseph Joachim.
Und doch — wie bald ist er ein Ganzes geworden!
Es wird stets zu meinen wertvollsten Erinnerungen gehören, in dieser seiner hannoverschen Frühzeit mit Joachim zusammengetroffen zu sein; den denkwürdigen Moment miterlebt zu haben, in dem eine neue Potenz der musikalischen Welt, sie revolutionierend und spaltend, sich Bahn zu brechen begann: Richard Wagner. Damals, um die Mitte der fünfziger Jahre, den meisten andern Bühnen voran, ward der „Tannhäuser” zuerst in Hannover aufgeführt; und die Aufregung, die Wirkung — ich Hab es an mir selbst erfahren — waren ungeheuer. Aber der Eindruck, wenn auch stark, war nicht rein: heftig entbrannte der Kampf der Meinungen, das stille Hannover ward ganz davon erschüttert, in Wort und Schrift ward die Schlacht um die Zukunftsmusik geschlagen. Eine andre, stillere Botschaft war es, die Joachim, der Schüler Mendelssohns, uns brachte: mit ihm kam Robert Schumann, mit ihm, nicht viel später, Johannes Brahms — mit ihm kamen die alten Musiker, wie wir sie vor ihm niemals vernommen. „Ich habe ihn verschiedene male gehört,” schrieb ich in mein Tagebuch (8. April 1855), „das einemal im letzten Abonnementsconcert, am 1. April, den andern Tag in seinem Hause, eines Nachmittags mit Wehner (dem von Göttingen als Director des Kirchenchors Herberufenen), und gestern in einer Matinée bei Wehners, in der dieser und Lindner (ein ausgezeichneter Cellist) mitwirkten. Nur Befreundete waren geladen, und es wurden gemacht ein Satz aus der A-moll-Symphonie von Beethoven, ein Mendelssohnsches Octett und ein Schumannsches Quartett. . .
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Mendelssohn geht mir immer am Meisten zu Herzen, ihm fühle ich mich verwandter als allen Andren . .
Ja, damals war Mendelssohn noch nicht aus der Mode; unbewußt mag es die Liebe zu seinem Meister gewesen sein, die mich von Anfang an zu Joachim hinzog, und wie er damals schon mir als Hüter der Tradition erschien, so ist er es in allen Wandlungen des Zeitgeschmacks geblieben.
Schon während dieser hannoverschen Jahre begab sich Joachim jedesmal mit dem Beginn des Frühlings nach London, um dort zu konzertieren. Man hat wohl von der musikalischen Begabung der Engländer im allgemeinen keine sehr große Meinung, was indessen einer Einschränkung bedarf. Es ist wahr, daß sie den unvergleichlich schönen schottischen und irischen Nationalmelodien etwas Ähnliches kaum an die Seite zu setzen haben, auch Komponisten ersten Ranges aus ihnen nicht hervorgegangen sind. Aber ebenso wahr ist, daß sie von ungemeiner Empfänglichkeit, voll warmer Anerkennung für fremde Tonschöpfungen und Tonschöpfer sind, deren manchem, wie Händel, England eine zweite Heimat geworden. Ausgeprägt ist ihre Vorliebe für deutsche Musik; und wie einst Haydn und Mozart, und nach ihnen Carl Maria v. Weber und Felix Mendelssohn-Bartholdy, so waren immer, wenn Parlament und vornehme Welt in London sich versammelten, deutsche Künstler die willkommenen Gäste — man darf sagen — der britischen Nation. Und so werden denen, die damals zugegen waren, unvergessen sein die Sommernachmittage in der St. James’ Hall, wo Joseph Joachim und Anton Rubinstein sich in die Lorbeern der “season” teilten — zwei Sterne, die nebeneinander glänzten, ohne ‘ jedoch einander jemals näher gekommen zu sein. Merkwürdig, beide von gleicher Abstammung und in fast gleichem Alter, aus ähnlichen Verhältnissen hervorgegangen und beide, der Ungar und der Slave, unter deutschen Einflüßen ausgebildet — und doch welche Kontraste! Beide genial und seit ihrem ersten Austreten von Bewunderung getragen — und doch, wie verschieden die Wege, die sie gingen, und das Ziel, das sie erreichten: Joachim als Sieger, Rubinstem enttäuscht und gebrochen. Damals freilich in jenen Londoner Sommertagen, als er, fesselnd in der äußeren Erscheinung, ein Liebling der Frauen und mit einem großartigen Zug in seinem ganzen Wesen, alle Herzen gewann, schien es, als ob die Zukunft ihm gehöre. Noch war der Zwiespalt nicht in seiner Seele, daß dem Komponisten versagt blieb, was dem Virtuosen im Jubel der Menge zuteil ward — versagt, was er mit der ganzen Inbrunst seiner leidenschaftlichen Natur ersehnte, bis er, der einst Umschwärmte, vereinsamt und in vergeblichem Ringen ergraut, resignierte. Jetzt aber noch ging es wie ein Rausch von ihm aus, wenn er in den Nachmittagskonzerten der St. James’ Hall auf das Podium trat, wenn er vor dem brausenden Beifall, der ihn empfing, sich leicht verneigte, das Haar, das ihm über die Stirne fiel, zurückstrich, sich an den Flügel setzte und mit dem Haupt, das an Beethoven erinnerte, über den Tasten niedergebeugt die ersten Akkorde anschlug — fürwahr ein Rausch, ein Taumel, wenn die Damen, Trägerinnen der stolzesten Namen Britanniens, hingerissen von seinem Spiel, ihm Fächer und Taschentücher entgegenschwenkten und Blumen vor die Füße warfen.
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Es war dieselbe St. James’ Hall und dasselbe Publikum, wenn Joachim auftrat; aber es war stiller, war andächtiger. Es agierte nicht mit, wie bei Rubinstein, es lauschte nur. Und so war es nicht nur damals. So blieb es ein halbes Jahrhundert lang. Die Generationen wechselten, die Liebe zu Joachim vererbte, vertiefte sich, und immer, wenn der Frühling wieder kam, kehrte er dahin zurück, wo er längst kein Fremder war, und wo man, als er starb, um ihn trauerte wie um einen geliebten Freund, den man verloren hat. Man könnte dieses Verhältnis nicht schöner ausdrücken, als es in einem A. C. unterzeichneten Gedicht geschah, das bald nach Joachims Tod in der Londoner Wochenschrift „The Spectator” erschien (24. August 1907) und das hier in deutscher, das Original allerdings nur unvollständig erreichenden Übertragung wiederzugeben versucht werden soll:
Im Frühling kam er jedes Jahr,
Wenn mit dem Krokus kommt sein Reich,
Doch kein April bringt, was einst war,
Musik mehr, die der seinen gleich.
‘s gibt Meister, deren Schaffensdrang I
n Dichtung oder Bild entzückt,
Und, sind sie selbst auch hin, doch lang
Noch eine späte Zeit beglückt.
Doch heute trauern wir, daß er,
Der schöpferisch um das Höchste warb,
Nur ein Erinnern noch, nicht mehr,
Da mit ihm seine Kunst auch starb.
Dies aber bleibt uns — was auch noch
Dem künftigen Geschlecht sich beut,
Das fremd ihm war — wir dürfen doch
Uns freun, daß wir uns sein gefreut!
Es war in der Tat, wie Max Bruch in seiner durch ihre Einfachheit und Wärme so sehr ergreifende Rede bei der Gedenkfeier der Königl. Hochschule für Musik sagte — es war Weltruhm, der Joachims Stirn umstrahlte. Wie wenig aber trug er ihn zur Schau, wie ganz ging er in seiner Kunst auf, der er als ein Priester diente. Ob er nun allein auftrat oder an der Spitze seines Quartetts saß oder, von der Schar seiner Schüler und Schülerinnen umringt, den Taktstock erhob: immer verbreitete sich eine Stimmung im Saale, wie wenn man in der Kirche sei. Niemals auch versagte er sich, wo es galt, einer Veranstaltung zu guten Zwecken durch den Klang seines Namens den Erfolg zu sichern. Seine Uneigennützigkeit kannte keine Grenzen. In Wohltätigkeitskonzerten ohne Zahl hat er mitgewirkt; es bedurfte nur eines Wortes, und er ehrte, im Schillerjahr, die Manen des Dichters, den er liebte, durch eine Reihe glanzvoller, in der Königl. Hochschule für Musik stattfindender Aufführungen, deren reicher Ertrag dem „Schillerbund deutscher Frauen” und durch diesen der Deutschen Schillerstiftung in Weimar zugute kam. Als Zeichen ihrer Dankbarkeit war die Vorsitzende der Berliner Ortsgruppe so glücklich, dem teuren Meister für dessen Autographensammlung einen Brief unsres großen Dichters und einen seiner Gemahlin verehren zu dürfen, worauf Joachim schrieb:
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Berlin, 17. November 1904.
Verehrte Frau!
Ich muß Ihnen gleich ein inniges Dankeswort für die unbeschreibliche Freude sagen, die Sie mir durch Übersendung der unvergleichlich weihevollen Spende der Autographen Schillers und seiner Lotte gönnten. Schon einmal besaß ich einen Brief des Großen, Herrlichen, an Sophie Mereau; als ich aber erfuhr, daß in der Sammlung der Mereau-Briefe des Goethe-Archivs dieser eine fehlte, opferte ich ihn der schönen Sache und schickte ihn an Suphan. Nun ist das ein wunderbarer Lohn der Vorsehung, noch intimere Zeilen zu besitzen. Und die Freude wird erhöht dadurch, daß Sie mich einer solchen Gabe wert halten, großmütige Frau!
In treuester Ergebenheit
Joseph Joachim.
Seine Pietät vor den Heroen in Musik und Dichtung ging Hand in Hand mit seiner Menschenfreundlichkeit. Er konnte keine Bitte abschlagen, weder den Bedürftigen noch denen, die in bescheidener Stellung unter ihm standen. Ein jetzt längst verstorbener Musiker, den er noch von Hannover her kannte, hatte ihn auf uns und uns auf ihn zum Frühstück eingeladen. Wir gingen nicht eben gern, aber gingen doch, und hatten dann auch wirklich ein ganz vergnügtes Stündchen. Auf dem Heimweg sagte Joachim: „Nun, hat es uns geschadet, daß wir dem Mann die Freude gemacht haben?”
Das Andenken an einen gemeinsamen Freund noch aus der Londoner Zeit, den frühverstorbenen Verfasser des epochemachenden Essays über den Talmud, Emanuel Deutsch, ward von Joachim liebevoll bewahrt. Er war der einzige, mit dem ich über den Frühverstorbenen sprechen konnte, der meinem Herzen so nahe gestanden hatte, und dessen Namen heute noch, nach so vielen Jahren, in London nicht vergessen ist. Wohl sind die meisten, die ihn gekannt haben, auch dort hingegangen; aber einige leben noch, die sich der seinen Gestalt des jungen Mannes erinnern, seiner geistvoll bewegten Züge, seiner witzsprühenden Rede, seines anregenden Humors — sonnige Heiterkeit um sich verbreitend, wohin er kam. Fremd unter Fremden, als kleiner Angestellter am British Museum, mühselig um seine Existenz kämpfend, begann er seine Laufbahn; nur wenige wußten, was in ihm steckte, bis er allmählich durch kleinere Arbeiten, die der sprachlich ungemein Gewandte in bestem Englisch schrieb, die Aufmerksamkeit weiterer Kreise auf sich lenkte und endlich, durch jene Publikation in der „Quarterly Review”, zu einer Berühmtheit wurde. Nun bewegte er sich, der, als ich ihn kennen gelernt, ein Unbekannter im Dunkel seiner Bibliotheksecke, unter hebräischen Folianten und arabischen Schriften saß, in den Kreisen der besten Londoner Gesellschaft, anerkannt von der gelehrten Welt und von der Gunst seiner Vorgesetzten nach Verdienst gefördert. Eine wissenschaftliche Mission ermöglichte ihm, Palästina, das Land seiner Sehnsucht, das Land seiner Väter zu besuchen; und in der glänzenden Zahl der Gäste, die der Khedive zur Eröffnung des Suezkanals geladen hatte, befand auch er sich. Es war ein beglückender, aber ein kurzer Traum. Eine tückische Krankheit, von der er Heilung in dem wärmeren Winter Ägyptens suchte, machte seinem Leben ein Ende, und dort, an der Schwelle des alten Orients, dessen Poesie niemand tiefer empfand als er, ruht er nun schon weit
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über ein Menschenalter. Aber auch voll Musik war seine Seele, sie verstand die Kunst und die Persönlichkeit Joachims, wie diesen der mit tiefem Gemüt vereinte Geist an Deutsch fesselte. Jetzt sind beide tot; aber so lange Joachim lebte, war mir, als ob auch Deutsch auf irgendeine Weise noch lebe, und mit Joachim ist auch Deutsch mir gleichsam zum zweiten Male gestorben. Nur noch ihre Bilder blicken einander in dem Zimmer an, in dem Joachim manchmal vor dem des im Tode ihm Vorangegangenen gestanden hat. Denn fast regelmäßig in jedem Winter einmal hatten wir das Glück, ihn bei uns zu sehen und zu hören. „Ich denke, es kommt einmal wieder die Gelegenheit, Ihnen die Chaconne vorzuspielen,” heißt es in einem seiner zahlreichen, an die Hausfrau gerichteten Briefe, die sich fast ausnahmslos auf solche musikalische Verabredungen beziehen. Freigebig in jedem Betracht, war er es auch in seiner Kunst. Ihm voraus, wenn wir ihn für den Abend erwarteten, kam die Zaubergeige, stumm in ihrer Hülle, bis der Meister den goldnen Strom der in ihr schlummernden Melodien wecken würde. Nur einige von denen, die ihm besonders sympathisch waren, und fast immer dieselben, hatten sich eingefunden; und doch, wenn er eintrat, war es jedesmal wie eine Feiertagsstimmung, von der allein er nichts merkte. Denn er gab sich stets in der einfachsten Natürlichkeit, wollte sich in keiner Weise von den übrigen unterscheiden, war gütig im Gespräch, heiter bei Tisch, ließ niemanden fühlen, welch ein Großer er war. Aber wenn er nun die Violine nahm — welch ein andrer ward er dann! Denn ihn spielen zu sehen, war ebenso erhebend, als ihn spielen zu hören. Nicht mehr der war er, der eben noch zutraulich sich unter uns bewegt — Ehrfurcht gebietend stand er da, und wir, die wir begnadet waren, ihn zu hören, werden es nimmermehr vergessen, wie seine Musik den Raum um uns in eine geweihte Stätte zu verwandeln schien . . . „Den 28. Januar 1907: Joseph Joachim” — das war Las letztemal, daß er seinen Namen in unser Gastbuch schrieb.
Aber noch ein kostbareres Andenken an ihn besitzen wir: nicht viele Monate vor seinem Tode war es, daß er, dem es schwer ward, „nein” zu sagen, sich in ein zweites Buch eintrug, eins, das den Titel führt: „Erkenne dich selbst” und meiner Frau Justina gehört. Für sie hatte Joachim stets eine große Freundlichkeit, und als sie ihn bat, die Fragen zu beantworten, da tat er ihr den Gefallen, und tat es mit jener ihm in allen Dingen eigenen Gewissenhaftigkeit, die aus dem, was als geistreiche Spielerei gedacht war, ein Blatt von unschätzbarem Werte gemacht hat. Ich gebe Fragen und Antworten so, wie sie mir hier in diesem Buche vorliegen.
Deine Lieblingseigenschaften am Manne?
Kraft, Zuverlässigkeit, Milde.
Deine Lieblingseigenschaften am Weibe?
Geistige und körperliche Anmut.
Deine Lieblingsbeschäftigung?
Quartett spielen.
Deine Idee vom Glück?
Immer Neues, Schönes schaffen, und es gut ausgeführt zu hören.
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Welcher Beruf scheint dir der beste?
Der einen ganz erfüllt, ohne die Teilnahme für andre zu töten.
Wer möchtest du wohl sein, wenn nicht du?
Jemand, der mit sich zufrieden ist, ohne eitel und flach zu sein. Gibt’s das?
Wo möchtest du leben?
Wo ich Gutes wirken kann.
Wann möchtest du gelebt haben?
Auch wir haben Schönes und Großes erlebt,
Welche Staatsform scheint dir die beste?
Die dem Kulturzustand und Charakter einer Nation angepaßte.
Deine Idee vom Unglück?
Verkannt werden, wo man liebt.
Dein Hauptcharakterzug?
? ? ?
Deine Lieblingsschriftsteller?
Göthe, Shakespeare (trotz Tolstoi). Aber auch Eichendorff, Reuter, Herman Grimm u. a.
Deine Lieblingsmaler und Bildhauer?
Leonardo da Vinci.
Deine Lieblingskomponisten?
Die Formbeherrscher, welche dadurch nichts an Tiefe des Gemüts, am freien Flug der Phantasie eingebüßt haben, unsre großen Meister.
Deine Lieblingsfarbe und Blume?
Goldlack.
Lieblingshelden in der Geschichte?
Hannibal; »wenn auch Zorn, Neid und Gemeinheit seine Geschichte geschrieben haben, sie haben das große, reine Bild nicht zu trüben vermocht.”
Lieblingscharaktere in der Poesie?
Imogen, Fidelio.
Deine Lieblingsnamen?
Mietze, Josefe, Lisel, Johannes, Herman, Paul 1).
1) Die Namen seiner Kinder.
Welche geschichtlichen Charaktere kannst du nicht leiden?
Zerstörer aus Egoismus.
Welche Fehler würdest du am ersten entschuldigen?
Die gegen die Etikette.
Deine unüberwindliche Abneigung?
Mit Unkundigen ästhetische Gespräche über Musik führen.
Dein Temperament?
Manchmal sanguinisch, bisweilen melancholisch, leider auch zu Zeiten cholerisch.
Dein Motto?
„Es ist des Lebens kein Ende.”
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Die Hand, die diese Zeilen schrieb — sie tragen das Datum des 3. Februar 1907 — ruht nun für immer. Aber wie sie den Saiten jene Klänge zu entlocken verstand, die deshalb so tief wirkten, weil in ihnen sich eine große künstlerische Persönlichkeit offenbarte: nicht anders hat sie hier das menschliche Bild dieser Persönlichkeit gezeichnet, wie es in unser aller Andenken weiterlebt — „edel, hilfreich und gut,” mild in seinem Urteile über andre, streng gegen sich, ernst in ernsten Dingen, aufgelegt zum Scherzen, wenn er unter Freunden war. Die Frage nach seinem Hauptcharakterzug hat er mit drei Fragezeichen beantwortet; wir aber wissen: es war die unbedingte Wahrhaftigkeit seiner Seele, die kein Abweichen vom Wege kannte, die ihn mit dem Glauben an die Mission seiner Kunst erfüllte und ihn sicher emporführte zu jenen Höhen, auf denen er für uns Mitlebende sichtbar stand und in der Erinnerung der Nachwelt stehen wird, vereint mit all den Großen, deren Interpret er gewesen ist. In diesem Sinne wird sich an ihm das schöne Bibelwort erfüllen, das er zu seinem Wahlspruch erkoren hat: „Es ist des Lebens kein Ende.”