Neue Musik-Zeitung, Stuttgart/Leipzig, vol. 38, no. 22 (1917): 347-349.


Joseph Joachims Wirken im Lichte der Gegenwart.

Von E. JOSEPH MÜLLER (Eschweiler)

Zehn Jahre sind es her, da wurde ein an Erfolgen und Arbeit reiches Leben beschlossen: Joseph Joachim starb am 15. August 1907. Schneller als der schaffende Künstler entschwindet der reproduzierende dem Blicke der Nachwelt, schneller ist aber auch das Urteil über ihn gefunden. Die zehn Jahre seit Joachims Tode gestatten wohl einen Rückblick auf seine Wirksamkeit, um so mehr als der Krieg mit seinen Erfahrungen auch in diesem Falle nicht nur doppelt zählt, sondern mit seinen vielen Wechseln auf die Zukunft unseres Volkes und der Kunst auch einen neuen Maßstab zur Beurteilung von hervorragenden Männern an die Hand gibt.

Lange Jahre hindurch war Joachim der größte Violinspieler seiner Zeit; die ganze Welt, besonders das Ausland, sah in ihm den Repräsentanten des deutschen Virtuosentums. Er war im Vollbesitz aller Mittel des Virtuosen: Glänzende, nie versagende Technik, Kraft und Schönheit des Tones, wundervolle Süßigkeit und Wärme der Melodie, rhythmische Straffheit und Freiheit zugleich, Temperament und Leidenschaft verschafften ihm Anerkennung und Ruhm.

Und doch war er kein Virtuose im eigentlichen Sinne, ja, es will fast scheinen, als ob der Name eine Ehrenkränkung für ihn sei. Er hatte nichts von dem Aeußerlichen eines Virtuosen an sich, Eigendünkel und Eitelkeit waren ihm fremd; kein Blender war er, der durch äußere Kunststücke, durch willkürliche Auffassung und Effekthascherei von sich reden machen wollte. Das unstete Wanderleben gefiel ihm nicht recht, und er wußte zwischen den Konzerten, zu denen er gewünscht wurde, Zeit zur Ruhe und Sammlung und zu ernsten Studien zu gewinnen. Gerne beteiligte er sich dagegen an großen, regelmäßig wiederkehrenden Musikveranstaltungen, weil sich dabei eine engere Verbindung zwischen Künstler und Zuhörern anbahnte.

Joachim war mehr als ein Virtuose; er war ein großer Musiker, ein edler Künstler, ja, mehr noch, ein vornehmer, echter Mensch, der von einer wahrhaft priesterlichen Auffassung seines Künstlerberufes durchdrungen war. Diese Eigenschaft hob ihn turmhoch über andere damals wirkende Geigenspieler hinaus und machte ihn zu ihrem Fürsten und Führer. Er hatte nicht nötig, wie einst Liszt, nach einer an äußeren Erfolgen unerhört reichen, unruhigen und innerlich doch nicht befriedigenden Virtuosenzeit sich plötzlich zurückzuziehen und sich selbst wiederzufinden; denn er war nicht wie dieser so im Virtuosenleben aufgegangen, hatte sich selbst nie verloren, und darum konnte ihn nie Ueberdruß erfassen. Bei allem, was Joachim wirkte, trat seine Person zurück; sein oberstes Gesetzt war, der Kunst und den Menschen zu dienen. Bei seinem Spiel ließ er den Komponisten zum Zuhörer sprechen; er war nur der Mittler zwischen beiden. Er ging ganz in dem Werke, das er spielte, auf, versenkte sich in dessen Inhalt und las heraus, was in ihm stand. Keiner wußte so wie er den Stil der verschiedenen Komponisten zu treffen und ihren Intentionen gerecht zu werden. So wurde er der vollkommenste Interpret, der ganz sein eigenes Ich zu vergessen schien.

Seiner strengen Musikauffassung entsprach es, daß er vor allem sich der klassischen Musik zuwandte und auf diesem Gebiete seine größten Taten vollbrachte. Besonders durch seine Sorge um die letzen Werke Beethovens erfüllte er eine Mission von höchster Bedeutung, die so groß ist, daß ihm schon deswegen seine Abwendung von der neudeutschen Musik verzeihen werden muß. Seine Einseitigkeit erscheint als ein Fehler seiner zielsicheren Konsequenz; jedenfalls kann man nicht sagen, daß er sich von der neueren Musik abgewendet habe, ohne sie zu kennen; er hat doch selbst jahrelang dem Weimarer Kreise angehört.

Die Wirkung von Joachims Spiel auf die Zuhörer war stets groß und bedeutend und es hat ihm an äußeren Ehren nicht gefehlt. Lorbeer und Ehrengaben wurden ihm im reichen Maße zuteil, aber sie bedeuteten für ihn mehr als die im Rausche und impulsiv dargebrachten Huldigungen, die einem blendenden Virtuosen zuteil werden; sie bedeuteten den Dank und die innige Zuneigung froh beglückter und zum Schönen und Hohen emporgeführter Menschen. Denn sein Spiel berauschte nicht und machte nicht trunken, aber es machte froh und glücklich und ließ alles Erdenschwere weit hinter sich: daher war es ein Erlebnis, ein hoher geistiger Gewinn. Solches Spiel kann nie das Ergebnis bloßen technischen, einseitig musikalischen Studiums sein, sondern kann nur herwachsen aus einem allgemein gebildeten, innerlich ausgereiften, edlen Charakter, den Joachim durch fortgesetzte ernste Studien immer mehr zu vertiefen suchte. Daher auch das Geheimnis, daß in seinen späteren Jahren sein Spiel nicht etwa wirkungsloser, sondern reiner, tiefer und zwingender wurde. Als alter Mann, der, da seine Technik etwas nachzulassen begann, besser getan hätte, wenn er einige Jahre früher dem öffentlichen Spiel entsagt hätte, wußte er doch noch die Klarheit seines Geistes, seine edle Auffassung, sein herrliches Interpretationstalent zu beweisen und die Seele über den Körper herrschen zu lassen.

Was aber sagt uns dieses alles über Joachims Bedeutung über seine Zeit hinaus? Vor allem das eine: Joachim war trotz allem einer der modernsten Musiker seiner Zeit, ja noch heute müßte er zu den fortschrittlichsten, die Zeit vollkommen verstehenden Meistern gezählt werden. Und warum? Nun, weil unsere Zeit und die Zukunft vom Musiker gerade das verlangt, was Joachim in so vollkommenem Maße erfüllte: das Zurücktreten hinter das Werk, das Neuschaffen und die Anregung zum schöpferischen Hören. Mehr und mehr wird ein guter Kunstgeschmack erkennen, daß der reproduzierende Künstler nicht zwischen das Werk und den Zuhörer zu treten hat, sondern lediglich beide miteinander in direkteste Verbindung setzen muß. Der Personenkultus früherer Zeiten ist glücklicherweise geschwunden. Der Zuhörer lauscht jetzt nicht dem Geiger oder dem Klavierspieler, sondern Bach, Beethoven und den anderen großen Meistern selbst. Der gebildete Zuhörer will und muß selbst an dem Aufbau des Werkes beteiligt sein; für ihn ist Musikhören ein Akt intensiver Mitarbeit, nicht bloßen passiven Genusses. Die größte Forderung an den reproduzierenden Künstler der Gegenwart und der Zukunft heißt, so zu spielen, daß dieses aktive Zuhören möglich ist. Die Erfüllung dieser Forderung ist die schwerste Aufgabe für den Künstler, denn das Werk soll nicht in der Verzerrung erscheinen, sondern rein und klar wie im Spiegel. Und ein Spiegel soll das Spiel des echten Musikers sein, wie es das Spiel Joachims war. Joachims Beispiel wird daher noch in weiter Zukunft wirksam sein und anregend auf jeden Künstler, der gleich ihm das Höchste erreichen und die Zeichen der Zeit verstehen will.

Es ist ganz natürlich, daß ein solch eminenter Musiker wie Joachim nicht nur dem Solospiel sich hingab, sondern daß seine Deutungskunst und seine allgemeine musikalische Kraft ihn auch andern Gebieten der Musikausbildung zuführte. Mag seiner Tätigkeit als Dirigent und Komponist keine große Bedeutung zuerkannt werden, dann muß ihm eine um so größere auf dem Gebiete der Kammermusik zugesprochen werden. Er ist der Begründer des modernen Quartettspiels und erreichte mit seinen Mitspielern eine Vollkommenheit des Spieles und eine Reinheit des Stils, eine Einheit der Musikauffassung, daß auch hierbei der Zuhörer an seiner eigenen Mitwirkung im Aufbau des Werkes nicht gestört wurde. Ein solches Musikgenießen, wie es bei Joachim möglich war, gleicht dem Lesen der Bibel ohne Kommentar, dem eigenen Aus-deuten des Wortes ohne die fremden Suggestionen der Fußnote.

Das Große in Joachim ist, daß er bloß ein Führer sein wollte zu den Quellen, aus denen lebendiges Wasser fließt. Joachims größter Ehrentitel ist daher nicht der eines Meisters und Künstlers, sondern der Titel aller Titel, nämlich der eines großen Erziehers; denn der besagt, daß neben einem reichen großen Können auch das edelste Wollen einhergeht, das Bemühen anderer wegen seine Kunst auszuüben, andere zu beglücken. Es sind die Tugenden eines rechten Bürgers, dem das Gemeinwohl oberstes Gesetz ist. Die erzieherische Tätigkeit eines Musikers wie Joachim stellt ihn in unmittelbare Nähe neben andere Erzieher, Seelsorger und Volksfreunde. Wäre doch diese Ansicht von der erzieherischen Bedeutung des Musikerberufs nicht nur bei den Musikern selbst, sondern bei allen Menschen herrschend! Wie würde das dem Stande der Musiker, aber auch der Allgemeinheit zum Nutzen gereichen! Der Künstler, ein Erzieher, der ebenso an der Höherentwicklung des Menschengeschlechtes mitwirkt, wie der Dichter durch sein Wort, wie der Prediger durch seine Lehre, der Lehrer durch seinen Unterricht, der Regierende durch seine Gesetze! Die Zeit wird kommen und vielleicht ist sie nahe, daß diese Auffassung des Musikerberufes herrschend wird. Dann werden Persönlichkeiten, wie Joachim eine war, in ihrem Werte erst voll erkannt werden.

Joachims Erzieherberuf spricht sich am klarsten darin aus, daß er die vielen Schüler, die sich im Laufe der Jahre zu ihm fanden, in seinem Geiste zu erziehen und anzuregen wußte. Wie wenige hat Joachim Schule gemacht. Darum sind seine Gedanken nicht mit ihm ins Grab gesunken, sondern sie leben fort und erneuern sich in seinen Schülern immer wieder und durchdringen die ganze musikalische Welt. Ueberall wirken seine Schüler in seinem Sinne weiter. Wo sie als Solospieler, als Kammermusiker, als Konzertmeister und Lehrer tätig sind, da erkennt man die gute, künstlerische Art ihres Meisters. Was das für die Geschmackbildung und die Verbereitung der Musikkultur bedeutet, das ist nicht zu sagen. Seien wir daher des alten Meisters dankbar eingedenk. Daß sein Beispiel so fruchtbringend werden konnte, das ist vielverheißend für die Zukunft.

Wenn die allgemeine Umbildung der Gesellschaftsordnung, die eine Folge des durch den Krieg so stark gewordenen Einheitsgefühls unseres Volkes sein wird, nach und nach sich vollzieht, dann wird man sich der Kunst vor allem erinnern, die dazu angetan ist, einigend, beglückend zu wirken, der Musik, die wie keine andere Kunst eine soziale Macht ist, und dann wird man als die besten Künstler die erkennen, denen die Kunst ein Mittel ist, Freude zu bringen und Gutes zu tun und die mit Richard Wagner sagen: „Ich kann den Geist der Musik nicht anders fassen, als in dem der Liebe.“