Signale für die Musikalische Welt, vol. 12, no. 14 (March, 1854): 113-14.
Zwanzigstes Abonnementconcert
im Saale des Gewandhauses zu Leipzig. Donnerstag, den 23 März 1854
Erster Theil: Introduction und erste Scene aus “Iphigenie in Tauris” von Gluck. Iphigenie: Fräulein Clara Brockhaus. — Concert für die Violine von Henri Litolff, vorgetragen von Herrn Concertmeister R. Dreyschock. — Hymne für eine Sopranstimme und Chor von Felix Mendelssohn-Bartholdy; die Solopartie gesungen von Fräulein Brockhaus. — Ouverture zu “Hamlet von Jos. Joachim, (Manuscript, unter Direction des Componisten .) — Notturno für das Waldhorn, componirt von Lorenz, vorgetragen von Herrn A. Lindner, Fürstl. Reuß. Hofmusikus. — Zweiter Theil: Symphonie pastorale (Nr. 6) von L. van Beethoven. (Die Ausführung der Chöre durch die Mitglieder der Singakademie, des Pauliner-Sängervereins in Verbindung mit dem Thomanerchore.)
Wenn man seine Gedanken mittheilen will, so ist die erste Forderung an dieselben, daß sie verständlich seien. Nur unter den deutschen Philosophen und Componisten sehen wir zuweilen Individuen auftreten, die jenes Verlangen nicht erfüllen können oder nicht erfüllen wollen. Das ist eine wahrhaft betrübende Erscheinung, um so betrübender als sie namentlich in der Neuzeit gerade an den begabtesten Geistern am öftersten bemerkt wird! Wir haben Herrn Joachim vor Kurzem ein außergewöhnliches Compositions-talent zugesprochen und wir bleiben auch nach der Aufführung seiner Ouverture zu Hamlet bei unserer Meinung. Neuheit und Eigenthümlichkeit der Gedanken hat sie durchaus. Allein was hilft es, wenn wir nach dem Anhören eines Tonstückes sagen können: das war sehr neu, sehr eigenthümlich, und hinzufügen müssen: aber durchaus unbegreiflich? Und durchaus unbegreiflich ist uns seine Ouverture geblieben. Wir haben eine sehr lange Reihe seltsamer Gedanken gehört, worunter welche wie leuchtende Blitze in düsterer Nacht kurz aufzuckten, aber wir vermochten sie weder als eine einheitliche Form zu fassen, noch irgend einen Bezug in ihnen auf Shakspeares Hamlet zu er-
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kennen. Herr Joachim wird gefunden haben, daß es dem ganzen Gewandhaus-Publikum so ergangen, und er weiß, daß das ganze Gewandhaus-Publikum ihn liebt. Kann oder will er seine Ideen in der Folge in eine begreifliche Form bringen und ihren Inhalt deutlicher ausdrücken, so steht ihm eine bedeutende Zukunft offen; auf dem Wege, den er mit diesem Werke betreten, geräth er in wüste Gegenden, wo keine Menschen wohnen, die Theil daran nehmen können. […]